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Der Präsident züchtigt die Elite seines Landes

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Als erstes Land in Lateinamerika weicht Venezuela vom Pfad der Tugend des neoliberalen Umbaus — wie er auf dem Subkontinent heute als Norm vorgegeben ist - ab. Mit Zustimmung und mit Schadenfreude beobachten breite Kreise der venezolanischen Bevölkerung, wie Präsident Rafael Caldera die politische, wirtschaftliche und finanzielle Traditionselite des Landes mit Züchtigungen eindeckt.

Von dem heute 78 jährigen Caldera, einem radikalen Christen, seit Februar erneut im Amt, hatte man Sparsamkeit und franziskanische Güte erwartet. Aber der dissi- dente Christdemokrat, dem in seiner „Convergencia“ Radikalsozialisten, Arbeiter, Katholiken und junge Offiziere zuarbeiten, knallt mit der Peitsche der Staatsintervention.

Im venezolanischen Kongreß verfügen die beiden Traditionsparteien, die COPEI-Christdemokraten und die sozialdemokratische Accion de- mocratica noch über die Mehrheit. Damit versuchen sie die Maßnahmen von Calderas „viraje“, seiner „Kehre“, die finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Notmaßnahmen, wie seit Ende Juni verordnet, zu torpedieren.

Wird Präsident Caldera deswegen in den kommenden Wochen nach dem Muster seines Amtskollegen Fujimori in Peru den Kongreß einfach nach Hause schicken? In der Präsidentenkanzlei werden solche Spekulationen verärgert verneint: Kein „Calderazo“!

AUFLÖSUNG DES KONGRESSES?

Tatsächlich denkt Caldera, politisch ein Genie, strikt verfassungsmäßig, weswegen ein Bruch ä la Peru kaum vorstellbar scheint. Allerdings denkt Caldera laut über ein Referendum zugunsten einer neuen Verfassung nach, was ihm die Möglichkeit böte, völlig legal den jetzigen Kongreß aufzulösen. Entschieden wird darüber in den nächsten Wochen.

Venezuela zeigt heute eine widersprüchliche und diffuse Situation: Dollars sind plötzlich streng rationiert, was den Importsektor abwürgt und die reiselustigen Venezolaner — denen sogar die Verwendung von Kreditkarten im Ausland untersagt wurde - zum Stubenhocken zwingt. Venezuelas Bolivar-Währung, im Mai/Juni am Zusammenkrachen, ist per Dekret in Relation zum Dollar auf 170 Einheiten eingefroren. Venezuelas Banken, deren miserables Management zur Krise beigetragen hat, stehen unter staatlicher Aufsicht. Das Großbürgertum, dessen Mitglieder über die beiden Traditionsparteien das Land mit leichter und korruptionsanfälliger Hand von 1958 bis 1993 administrierten, wütet gegen die dirigistischen Maßnahmen und Demütigungen.

Der Präsident hat mit seinem Not-Schwenk dem drohenden Bankrott des Landes vorgebeugt. Wie es weitergehen soll, weiß im Moment niemand. Die dirigistischen Maßnahmen, heißt es offiziell, seien nur vorübergehend. Indes, manches davon — wie zum Beispiel die Preiskontrolle für lebenswichtige Güter - dürfte sich lange halten. Caldera findet gerade erst Geschmack daran, der Beifall aus der Bevölkerung - vom verarmten Mittelstand bis zum informellen Sektor - bestätigt ihn. Außerdem bringen ihm die deutlich ansteigenden Erdölexportpreise die budgetäre Beweglichkeit, die er in der Äusnahmesituation braucht.

Auch versteht es Rafael Caldera ganz gut, ausländische Unternehmer und Investoren nicht zu verschrecken. Sein Notstandsprogramm prügelt die einheimischen Bankiers, Politiker und Geschäftsleute, spart indessen die Ausländer, nach wie vor heftig umworben, sorgfältig aus.

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