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Kann mehr Demokratie der Stärke und der Einheit schaden?

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Wie die EU „funktioniert", wird vom Europäischen Parlament derzeit Österreich vorexerziert.

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Wie die EU „funktioniert", wird vom Europäischen Parlament derzeit Österreich vorexerziert.

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Die vier neuen - Österreich, Norwegen, Schweden und Finnland - müssen zittern. Viele bereits für die Europawahlen am 12. Juni wahlkämpfenden Kandidaten des Straßburger beziehungsweise Brüsseler Parlaments zeigen offen Desinteresse an der richtungweisenden Abstimmung in einer Woche, am Mittwoch, 4. Mai. Es liegt im Bereich des Möghchen, daß das für die absolute Mehrheit notwendige Quorum von 260 Stimmen für die Neuen nicht erreicht wird.

Dazu gesellt sich eine Mißstimmung vieler Abgeordneter gegenüber einer sogenannten „Stärkung des deutschen Elements" in der neuen EU sowie Skepsis über die „Norderweiterung". Besonders schwer liegt den Abgeordneten die - auch für die Beitrittskandidaten eher unverständliche - Kompromißformel über die sogenannte Sperrminorität im EU-Ministerrat im Magen. Bisher galt ein Beschluß im Ministerrat der EU (siehe Informationskasten) angenommen, wenn er eine qualifizierte Mehrheit - 70 Prozent der bisher 76 Stimmen (also 54) - bekommen hatte. Ein Veto konnte mit einer Sperrminorität von 30 Prozent, also mit 23 Stimmen, eingelegt werden. Nach einem Beitritt der vier würde die qualifizierte Mehrheit von 70 Prozent bei 64 der dann insgesamt 90 Stimmen im Mi nisterrat liegen. Österreich und Schweden würden je vier, Finnland und Norwegen je drei Stimmen erhalten. Die Sperrminorität würde sich auf 27 Stimmen erhöhen, das heißt, es müßten sich - demokratiepolitisch einsichtig bei einer EU-Erweiterung - mehr Länder als bisher (da hätten dann die vier neuen, eher kleinen Staaten eine Chance) zur Verhinderung einer Gesetzesinitiative der Kommission zusammenfinden.

Großbritannien und Spanien legten sich quer, ihnen paßte aus verständlichem Eigeninteresse heraus die 30-Prozent-Bestimmung unter neuen Gegebenheiten plötzlich nicht mehr. Die Kompromißformel besagt, daß de iure an der SOprozenti-gen Sperrminorität festgehalten wird, de facto aber weiterverhandelt werden muß, wenn 23 Stimmen gegen ein Gesetz votieren. -

Dem Parlament paßt das nicht, es fordert mehr Demokratie in der EU. Das heißt, unter Umständen könnte sich der demokratiepolitische Einsatz der Euro-Parlamentarier kontra-iroduktiv für den Beitritts-candidaten Österreich auswirken. Klagen über Demo-kratidefizite innerhalb der EU sind also nicht nur Ausdruck einer Anti-EU-Haltung, sondern berechtigter Protest einerseits gegen eine vereinheitlichende Tendenz innerhalb der Gemeinschaft, andererseits gegen die stets von augenblicklichen nationalen Interessen geprägte Unart, bestehende Bestimmungen um vordergründiger Einheit willen umzuinterpretieren und damit auch auszuhöhlen.

In dieser Spannung steht die seit dem Maastricnter Vertrag 1991 sogenannte Europäische Union heute (der Unionsbegriff steht schon in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986). Die ganze Verfassung ist vom Wunsch nach Vereinigung, Vereinheitlichung und engem Zusammenschluß - nicht wirtschaftlich, sondern auch politisch - geprägt. Um diesem Gedanken Rechnung zu tragen, mußte eine Regie-rungs- beziehungsweise Gesetzgebungsform gefunden werden, die effektiv und einheitsorientiert war. Daher hat das Europäische Parlament (seit 1979 alle fünf Jahre direkt gewählt) keine gesetzgebende, sondern nur meinungsbildende und eingeschränkt kontrollierende Kompetenz - beispielsweise im Haus-laltsrecht.

Die Regierung mit initiativrechtlicher und exekutivrechtlicher Kompetenz ist die Kommission (siehe Graphik). Das Parlament kann mitdiskutieren, die Entscheidung fällt der EU-Ministerrat. Dabei geht EU-Recht vor nationalem Recht.

Das Europäische Parlament, das immer wieder eine Ausweitung seiner Rechte einfordert, darf schriftliche oder mündliche Anfragen an EU-Kommission und EU-Rat stellen. Mit Zweidrittelmehrheit könnte es sogar der Kommission das Mißtrauen aussprechen und sie absetzen - das ist aber noch nie geschehen.

Gestärkter Parlamentarismus in der' Europäischen Union würde - so behaupten Zentralisten - zögerliches Arbeiten bedeuten, wäre demokra-tiepoUtisch aber sicherlich ein Gewinn. Er ist vor allem eine Forderung von EU-Skeptikern, darunter in erster Linie Grüne (siehe Seite 1). Für Kleinstaaten wie Österreich bedeutete ein Ausbau des EU-Parlamentarismus einen Verlust an Einflußmöglichkeit. Die jetzige EU-Verfassung - wie es weitergeht, soll eine Regierungskonferenz 1996 aushandeln - gibt via Ministerrat den Kleinen größere Mitbestimmungsmöglichkeiten.

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