Öffentliche Bedürfnisanstalt

Werbung
Werbung
Werbung

Käme ein Fremder nach Wien, führe er durch die Unterwelt ihres öffentlichen Verkehrs, er müsste meinen, sie hätte kein brennenderes, kein größeres, kein schwerwiegenderes Problem als Menschen, die in den U-Bahn-Zügen der Wiener Linien Nahrung zu sich nehmen. Das sogenannte Essverbot beherrscht die städtische Propaganda, es blinkt ihm auf den elektronischen Anzeigetafeln entgegen, es wird durch überdimensionierte Piktogramme versinnbildlicht und über Lautsprecher unermüdlich verlautbart, und es ist der running gag einer "lustigen" Plakatkampagne, die den "Tatort Leberkäs" ausruft und "Klare Scharftat" oder "Nudelfall ungelöst" verkündet.

Das Verbot gilt seit 15. Jänner und wurde ursprünglich damit begründet, dass warme, stark riechende Speisen von den meisten Fahrgästen als Belästigung empfunden würden. Mittlerweile erklärt man, dass auch andere Nahrungsmittel "ihre Spuren" hinterlassen würden, macht also kein Hehl daraus, dass es in Wahrheit um die Reduktion von Reinigungskosten geht. Dahinter steht freilich der Trend, immer mehr Angelegenheiten des sozialen Miteinanders zu reglementieren. Wenn der U-Bahn-Fahrgast keinen Apfel, keine Banane, keine Wurstsemmel mehr essen darf, wenn das Essen auf diese Weise dem Rauchen gleichgestellt wird, dann folgt alsbald das Trinkverbot.

Im Grunde ist auch der Ausschluss von Pizza und Kebab eine willkürliche Beschränkung, denn bei Bahnfahrten akzeptiert man jede olfaktorische Note, vom Gulasch bis zu den Käsespätzle. Und ginge es in erster Linie um den Grad allgemeiner Belästigung, dann müsste man ein Telefonierverbot zumindest diskutieren. So aber führt die Stadt Wien ein Scheingefecht im Geiste von Law and Order. Der Bürger von heute soll sich an die Verwaltung seiner Primärbedürfnisse beizeiten gewöhnen. Da wird die Tafel Schokolade zum Widerstandsakt.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung