Das Überleben im Untergrund

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Fundiertes Panorama

Der TV-Dokumentarist Claus Räfle hat Zeitzeugen interviewt: Das Gesprächsmaterial wird zur Grundlage eines Films, der die Interviews mit nachgestellten Spielszenen kombiniert.

Ausharrend in der feindlichen Heimat, ständig mit der Angst konfrontiert, aufzufliegen, entdeckt oder verraten zu werden -"U-Boote", so wurden die Untergetauchten genannt. 7000 Deutsche jüdischen Glaubens überlebten den Zweiten Weltkrieg in Berlin. Vier ihrer Geschichten dienten als Ausgangsbasis für "Die Unsichtbaren -Wir wollen leben", ein Doku-Drama, das sich sowohl inhaltlich als auch formal abseits der ausgetretenen Pfade bewegen will.

Die Schicksale müssen sich nicht einmal berühren, um Gemeinsames zu finden -etwa in dem, was im Regimejargon "Evakuierung" hieß. Ab Oktober 1941 sollten die 74.000 in der Hauptstadt verbliebenen Juden in Ghettos, Konzentrations-,schließlich Vernichtungslager deportiert werden. Während sich die einen als Familie dem Befehl entzogen, sich für den Gang ins Versteck oft trennen mussten, "flitzten" andere erst im letzten Moment. Als kriegswichtiger Arbeiter sei er zurückgestellt, lügt Cioma Schönhaus und macht in der Sammelstelle eine Szene, springt das erste Mal von der Schippe. Sein Weg ist der waghalsigste im Film, einer des ständigen Suchens nach blinden Flecken im System. Wo lässt sich ohne zu viele unangenehme Fragen ein Platz zum Schlafen finden? Wie an die Rationskarten kommen, ohne die man nichts zu essen hat? Wo kann Cioma einen Ort finden, an dem er eine Werkstatt für gefälschte Ausweise einrichten kann? Wann wird trotz Vorsicht alles reine Glückssache? Letztere Momente nutzen der langgediente TV-Dokumentarist Claus Räfle und seine Drehbuchpartnerin Alejandra López auch, um darüber hinaus noch andere Über-Lebensumstände in Berlin zu zeigen.

Mit dem geschichtlichen Ersatztheater zum Selbstzweck, wie es bei populärhistorischen Dokus allzu sehr die Norm geworden ist, hat der Film kaum etwas gemein.

"Doku-Fiktion"

An das, was Primo Levi die "Grauzone" nannte, erinnert zum Beispiel die jüdische "Greiferin" Stella Goldschlag, die von der Gestapo erpresst und bezahlt wurde, um Untergetauchte zu denunzieren, während unweit davon Werner Scharff und die "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau" die Gefahr der Widerstandsarbeit in Kauf nahmen. Details, die der Film dabei einflicht, machen ihn über das Historische hinaus unmittelbar. Die Erinnerung ans zwiespältige Gefühl beim Bombenangriff, die manchem die BBC-Radioansprachen von Thomas Mann in Erinnerung rufen. Oder Bemerkungen wie jene von Hanni Lévy, die sich die Haare blond färbte und einen anderen Namen annahm: Als "Arierin" habe sie lernen müssen, nicht mehr geduckt zu sein - dargestellt von ihrem jungen Alter Ego, das sich ins Kino wagt.

Der Begriff "Doku-Drama" erfährt hier ein selten dichtes Ineinandergreifen von Interviews mit den echten Personen und nachgestellten Spielszenen. In ihrer Funktion werden sie zur nächstmöglichen Verlängerung in die Vergangenheit. Kaum etwas gemeinsam haben sie dabei mit dem geschichtlichen Ersatztheater zum Selbstzweck, das so tut als ob, wie es bei populärhistorischen Dokus allzu sehr die Norm geworden ist. Auch wenn er sich die emotional steigernden Zwischeneinstellungen nicht verkneifen kann: Für diese nicht alltägliche Interpretation des Genres gebührt Räfle mindestens so viel Beifall wie für das fundierte Panorama, das er vom Leben im Untergrund vorlegt.

Die Unsichtbaren -Wir wollen leben D 2017. Regie: Claus Räfle. Mit Max Mauff, Alice Dwyer, Ruby O. Fee, Aaron Altaras. Tobis. 110 Min.

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