In tief gefrorener Zeit

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Ein Mann streift allein durch ein verschlafenes deutsches Städtchen. Irgendwann stimmt er ein Lied an: "Du weißt nicht, was für eine Leere du hinterlassen hast "- Imad hat Frau und Kinder beim Versuch, von der Türkei nach Griechenland überzusetzen, verloren. Ihre Leichen sind vermutlich auf dem Grund der Ägäis, unter Deck jenes Schiffes, mit dem sie gesunken sind. Bis sie jemand birgt, gelten sie als vermisst. Die Leere aus dem Lied findet sich in der Dokumentation "The Remains -Nach der Odyssee" allerorts wieder. Für die hinterbliebenen Familien sei das Leben wie in einer Art gefrorenen Zeit gefangen, beschreibt die Filmemacherin Nathalie Borgers ("Kronenzeitung", "Fang den Haider") den Zustand aller, die wie Imad jemanden auf der Flucht verloren haben.

In seinem Fall überlebten 14 Angehörige, 13 kamen um. Sein Bruder Farzat wohnt in Wien und füllt Suchformulare aus, von denen er zweifelt, dass sie ihm helfen können. Er schafft es, dass die Schwestern und der Vater aus der Türkei nachkommen dürfen. Imad jedoch darf sich ihnen nicht anschließen: Sein Asylbescheid gilt für Deutschland. In den bürokratischen Terminen bei Hilfsorganisationen oder den Tablettenpackungen, die zum Schlafen verschrieben werden, demonstriert Borgers, wie das System diesen Traumata begegnet. Sie zeigt es auch anhand des Boots der griechischen Küstenwache, dem erst nachträglich die Wärmebildkamera eingebaut wurde, um Schiffbrüchige zu retten.

Parallel zur Geschichte um Farzats und Imads Familie bereist der Film die vormals erste Anlaufstelle auf dem Weg nach Europa, die heute fast leergefegt wirkt: die Insel Lesbos. Wracks, Treibgut und Müll liegen an der gefährlichen Felsküste. Etwas oberhalb, beim Leuchtturm, zeigt ein einheimischer Fischer das Denkmal für einige Flüchtlinge, die 2009 hier starben. Bei vielen ihrer Nachfolger reichte es nur zu einem anonymen Grab.

"Remains", das heißt Überreste, und während irgendwo Retter ausgebildet werden, wie man diese dokumentiert, sucht Borgers auf Lesbos Beispiele für einen individuellen, menschlichen Umgang damit. Da ist der Mann, der aus Afghanistan hierher kam, seine neue Heimat fand und es zu seinem persönlichen Anliegen macht, bei einem Steinmetz Grabtafeln für drei nachträglich identifizierte Mädchen anfertigen zu lassen. Anderswo stehen Container voll mit eingesammelten Rettungswesten, aus deren Stoff eine Flüchtlingswerkstätte Taschen produziert. Der Fischer wiederum hat unter Einsatz seines Lebens viele aus dem Wasser gezogen. Bei der Diagonale wurde "The Remains" mit dem Großen Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Besonders effektiv ist er darin, zuzuhören, und die bedrückende Ruhe, das Schweigen sich ausbreiten zu lassen.

Bedacht aber zugleich aufwühlend führt er den Wellengang vor Lesbos mit dem friedlichen Entlastungsgerinne bei der Donauinsel zusammen, wo Farzat über das Schicksal seiner Verwandten erzählt; oder schnürt durch die Macht der Montage die Kehle zu, wenn sein Bruder Imad an einem Kindergarten vorbei geht. Deutlicher als hier zeigt sich der fundamentale Wert der Familie sowie jener der Familie der Menschen nur selten.

The Remains -Nach der Odyssee A 2019. Regie: Nathalie Borgers. Thimfilm. 90 Min.

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