molekuele - still - © Foto: Polyfilm

„Moleküle der Erinnerung“ – Rechnen mit dem Unvermeidlichen

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Der Autor Thomas Taborsky über den Film „Moleküle der Erinnerung – Venedig wie es niemand kennt“ des Regisseurs Andrea Segre.

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Der Autor Thomas Taborsky über den Film „Moleküle der Erinnerung – Venedig wie es niemand kennt“ des Regisseurs Andrea Segre.

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In der Vierung des Markusdoms in Venedig liegt eine rechteckige Marmorplatte, der die Einheimischen den Namen „il Mare“ gegeben haben, und in der sich Stein, das Meer und die Verwerfungen der Zeit vereinen. Diese drei Elemente durchziehen auch Andrea Segres („Shun Li und der Poet“) filmischen Essay „Moleküle der Erinnerung“, dessen deutscher Untertitel „Venedig wie es niemand kennt“ mehrerlei Bedeutung hat. Die augenscheinlichste: Segre begann am 22. Februar 2020 zu drehen. Was für andere der denkbar schlechteste Zeitpunkt wäre, wird für ihn maßgeblich: Der Karneval ist abgesagt, die Serenissima leert sich. Nur die Venezianer bleiben. Verblüfft über das Wasser, das ohne Bootsverkehr ruhig da liegt, sehen sie ihre Heimat wieder auftauchen. Sie nehmen ihn mit zum Rudern, auf die Landzungen draußen, die vom steigenden Meeresspiegel bedroht sind, reden über ihr Leben mit dem Acqua Alta, dem immer öfter wiederkehrenden Hochwasser, oder das Glück beim Fischen. Und Segre dreht weiter. Die Leere, die sich vor ihm aufbaut, wird für den Filmemacher zum Raum, in dem er auch Zwiesprache mit seinem verstorbenen Vater halten kann, der Venezianer, Physiker, doch seinem Sohn zeitlebens wenig vertraut war. In die immer stiller werdende Szenerie hinein, aus der sich bald einzelne Stimmen oder Ruderschläge abheben, befragt er den Toten, sucht er in den 8-mm-Filmen, die er im Nachlass fand, nach Anknüpfungspunkten, oder in dessen Lieblingsbuch, Albert Camus’ „Der Fremde“. Konfrontiert mit der Pandemie, philosophiert er über die Angst, allein gelassen zu werden, das Lernen, mit dem Unvermeidlichen zu reden und damit eine Vereinbarung zu finden. „Moleküle der Erinnerung“, der seine Weltpremiere am Vorabend der Filmfestspiele von Venedig erfuhr, ist damit gleichsam eine Zeitkapsel wie er aus diesem absurden Moment unserer jüngsten Vergangenheit Bedeutung schöpft – und einen höheren Sinn kann Kino kaum besitzen.

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