6772842-1969_09_17.jpg
Digital In Arbeit

Anatevka an der Wien

Werbung
Werbung
Werbung

Die Ostjuden haben in ihrem Jiddisch ein Wort für die seltsamen Geschmäcker der NichtJuden: Gojim Naches. Es gilt hier, da der deutschen Version dieses Stückes nicht sein perfekt ans Deutsche übersetzbarer Originaltitel „The Fiddler on the Roof“ — der Fiedler auf dem Dach — erhalten blieb. Statt dessen wurde der für den Sinn und Geist des Stückes durchaus belanglose Name des westrussischen Nestes gewählt, in welchem die Handlung abläuft. Denn dieser Fiedler auf dem Dach des Häuschens von Tewje, dem Milchmann, ist nicht nur dessen guter Geist, er ist der Genius des ganzen Stückes, er ist noch mehr: Symbol des Jüdischen, wo es am besten, am begabtesten und graziösesten ist. Er spielt da seine Weise (von einer Süße, die einem die Tränen in die Augen treibt) von Anfang bis zum Ende, wann immer irgend etwas Wichtiges um Tewje und die Seinen geschieht — bei einer trunkenen Männerfeier in der Dorfschenke, bei den Hochzeiten von Tewjes Töchtern, ja noch in dem wirren Alptraum, den Tewje nächtens seiner Frau vorschwindelt, ein Alptraum, in welchem die wunderlichsten und schaurigsten Figuren der jüdischen Folklore Gestalt annehmen, und wo es nicht nur, wie beabsichtigt, Tewjes Frau gruselt, sondern schließlich ihn selbst, nicht zu reden von uns, den Zuschauern, denen es kalt über den Rücken läuft.

Was für ein Musical ist das, ich bitte Sie? Es ist eines, denn es besitzt den ganzen rassigen Schwung und die Sophistiziertheit der Moderne — und ist dennoch zugleich dichteste naivste jüdische Folklore —, und es ist auch fast eine Oper.

Es war ein echter Glücksfall, daß die ereignisreiche Erzählung des jüdisch-russischen Volksdkhtera Scholem Alechem von vier Amerikanern, die aber begabte jüdische Burschen waren, zu diesem Bühnenwerk umgeformt wurde: Joseph Stein, Verfasser des Textbuches; Jerry Bock, der eine Musik dazu schrieb, die einen stellenweise umwirft; Sheldon Harrick, der Verfasser der Gesangstexte (deren deutsche Übertragung ein bißchen steif ist, was, aber von den Darstellern mit Geschick überwunden wird) und der begabteste von allen, Jerome Robbins, der große Tamzimeister, dem es so wie in früheren Werken auch hier gelang, Chor und Ballett in einer Einheit zu verschmelzen. Gut ausgewählte Darsteller (unter den jungen und unbekannten erstaunlich viel Talent). — Vor allem aber der ■ Hauptdarsteller, der Israeli Jossi Jaddin als Tewje, eine ganz große Persönlichkeit voll Können, Charme, Humor und Menschlichkeit. Regie und Choreographie in der Aufführung im Theater an der Wien folgten mit Geschick der New Yorker Origimaltaszemierung. Die Musik ist mit Liebe und Einfühlung von Johannes Fehring und einem mit Gusto und Geschick wirkenden Orchester zum Leben gebracht. Der Fiedler folgte Tewje und den Seinen .getreulich selbst nach Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung