Apokalyptisches Moskau

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Der russische Schriftsteller Dimitrij Prigow entwirft ein schreckenerregendes Bild von Moskau.

Dmitrij Prigow erinnert sich an Moskau. Jahrgang 1940, lebt er als Dichter, bildender Künstler, Performer in dieser Stadt und gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Moskauer Konzeptualismus. "Lebt in Moskau!", befiehlt uns der Titel seines Romans. Wir haben aber ohnehin keine Wahl. Denn Prigows Moskau ist die Welt, ein Entrinnen unmöglich.

Soziale Plastik

Mit einer Autobiografie haben diese Erinnerungen nichts zu tun. Prigow kreiert vielmehr eine schreckenerregende soziale Plastik. Nachvollziehbare "reale" Erinnerungen an historische Ereignisse, z.B. das Begräbnis von Leonid Breschnew, werden angerissen, um im selben Moment in eine apokalyptisch-phantastische, hyperreale Erinnerung zu kippen. Unzählige Male erlebt Moskau Vernichtendes - es brennt, es wird von einem Abgrund verschlungen, es liegt "bis zu sechs bis sieben Meter unter glänzendem Eiswasser", es wird von Erdbeben zerrissen, der Krieg endet nie. Das Repertoire an Katastrophen scheint unendlich, und die Menschen sind Teil der Gewalt, werden Opfer der Gewalt - es sind deformierte, entstellte Körper, aus denen Prigow die soziale Skulptur Moskau formt: "sämtliche Straßen und Plätze waren mit vertrockneten und aufgeplatzten Körpern übersät. Der Rest [...] hatte nicht mehr genügend Kraft, über diese Fischleiber mit ihren abstehenden, wie Klingen spitzen, schmalen Kanten hinwegzuschreiten oder darüberzukriechen. Sie blieben auf den Erfrorenen liegen. Die solcherart quer übereinanderliegenden Körper bildeten allmählich eine harte, starre Gitterkonstruktion. In kürzester Zeit entstand daraus ein drei bis vier Meter hoher Turm, dessen Seiten- und Querflügel sich kilometerweit in die Umgebung erstreckten."

Subjektiv und subjektlos

Prigows Erinnerungen sind so radikal subjektiv wie gleichzeitig subjektlos. Was heißt überhaupt Erinnerung? Auch darüber räsonniert Prigow notgedrungen, da kein Moskauer seine Erinnerungen teilt. Er kann sich selbst nicht so recht vorstellen, dass sie aus der Vergangenheit kommen, aus der Zukunft auch nicht, man "möchte meinen, aus etwas Fremdem. Und wenn ich es mir recht überlege, stammt es nicht wirklich woanders her?"

Prigow, der Dichter und Seher? Seher einer entmenschlichten, entzivilisierten Gesellschaft, die weder zeitlich noch örtlich in der Vergangenheit des realen Moskaus festzumachen ist, sondern vielmehr in der Gegenwart der Megalopolen weltweit?

In seiner Anmerkung zur deutschsprachigen Ausgabe meint Prigow, er spiele in seinem Roman die "drei Grundformen authentischen europäischen Schreibens - Memoiren, Reisebericht und Confession" - durch. Tatsächlich erinnert "Lebt in Moskau!" stellenweise an die an keine faktische Realität gebundenen Reisebeschreibungen oder auch an die Visionsliteratur des Mittelalters. Prigows Moskau erscheint wie das albtraumhafte Gegenbild zum himmlischen Jerusalem, dem Sehnsuchtsziel alter Traumallegorien.

Monströs und gewaltvoll

Die monströsen, gewaltvollen Bilder, die Prigow geradezu manisch produziert, kontrastieren mit der formstrengen Komposition des Romans. Die Achse bildet das Kapitel vom "Moskauer Milizionär", sie teilt die als "Moskau 1" bis "Moskau 6" durchnummerierten weiteren Teile. Der Milizionär ist prototypisch für Prigows Vorgehen. Man glaubt zumindest bei diesem Kapitel eindeutig eine zeitliche Verankerung vornehmen zu können. Ist der Milizionär doch für Prigow "die Staatlichkeit in Reinform", und welche andere Staatlichkeit könnte gemeint sein als die des Sowjetkommunismus? Doch Prigow extrahiert aus der Gestalt eine reine Form: "Ja, ganz genau - exakt diese Hervorhebung und Betonung der Vertikalen, ihre permanente Akzentuierung ist, oder genauer gesagt war, die wesentlichste Funktion des Milizionärs."

Prigow nimmt sich 50 Jahre Sowjetgeschichte an die Brust und umarmt sie so fest, bis alle historische Farbe aus ihr gewichen ist. Die gewaltsam entleerten Formen montiert er neu, füllt sie mit seinen eigenen Bildern und es entsteht ein Gebilde, das erschreckender Weise genauso viel Vergangenheit in sich trägt wie Gegenwart und mögliche Zukunft.

Lebt in Moskau!

Von Dmitrij Prigow

Aus dem Russischen von Erich Klein und Susanne Macht

Folio Verlag, Wien 2003

347 Seiten, geb., e 19,50

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