Das große Leid der Kleinen

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Nicholas Stargardts "Maikäfer flieg!" berichtet von den Auswirkungen des Krieges auf Kinder.

Dem 2. Weltkrieg sind Kinder in beispiellosem Ausmaß zum Opfer gefallen. Sie wurden abgeschlachtet, als die deutsche Wehrmacht Polen und die Sowjetunion überfiel. Sie wurden in den Todeslagern vernichtet. Sie wurden in deutschen Städten von den Brandbomben der Alliierten verbrannt. Und sie erfroren auf der Flucht vor der Roten Armee. Nicholas Stargardt hat jetzt zum ersten Mal versucht, die Geschichte dieser Kinder zu erzählen. Mit Maikäfer flieg! Hitlers Krieg und die Kinder hat der Historiker, der neuere europäische Geschichte an der Universität Oxford lehrt, ein eindrucksvolles und erschütterndes Buch geschrieben.

Es sind die Erinnerungen der Kinder, die den Leser unvermittelt treffen. Die schockierende wie ehrliche Offenheit und Naivität, mit der sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben haben. Wie der damals 15-jährige Junge, der bei der Hinrichtung von 200 jüdischen Frauen in Ostpreußen helfen musste; oder der tschechische Junge, der dem Strafbataillon in Auschwitz helfen musste, Gefangene in die Gaskammern zu treiben. Es sind Erinnerungen, die diese Kinder ein Leben lang belasten. Leid und schier unerträgliches Leiden klingen darum aus allen Kapiteln dieses Buches.

Tagebücher, Briefe, Bilder

Und doch: Stargardt zeigt Kinder nicht nur als Opfer eines Krieges. Er zeichnet vielmehr differenziert und einfühlsam nach, wie der Krieg in die Leben der Kinder eingriff, ihr Handeln und ihre Vorstellungen veränderte und prägte, und zu welchen Taten und Entscheidungen er sie dadurch trieb.

In seinem Buch stützt sich Stargardt auf unterschiedliche zeitgenössische Quellen wie Tagebücher, Briefe, Bilder aber auch Verwaltungsberichte oder Erinnerungsfragmente und Memoiren. Gerade mit diesen nachträglich entstandenen Quellen geht der Historiker sehr behutsam um. Er thematisiert die Frage nach Formen späteren Umgangs mit Kriegskindheit und nachträglichen Deutungs-und Vermeidungsstrategien immer wieder (wie dies beispielsweise auch Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern getan haben).

Wie Stargardt in seiner Untersuchung zeigt, waren es gerade die Kinder, die sich besonders schnell und effektiv an den Krieg anpassen konnten. Eben weil sie, anders als ihre Eltern, kaum eine Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität hatten. Während Erwachsene kollabierten, wurden die Kinder zu den Versorgern der Familie. Sie bettelten oder schmuggelten Nahrungsmittel an den Soldaten vorbei in die Ghettos. So, als wäre es nur ein großes Spiel. Die Kinder gewöhnten sich an die Gegenwart der Gewalt. Ein Zeuge erinnert sich an drei polnische Jungen, die über den Körper eines verhungerten Kindes stolperten und trotzdem nicht aufhörten zu spielen ...

Wirklichkeit nachgespielt

Während die Erwachsenen in den Ghettos oder Todeslagern versuchten, die Gegenwart des Todes zu ignorieren, trieben Kinder ihren Spaß damit. Sie provozierten sich gegenseitig, den elektrisch geladenen Zaun zu berühren, schreibt Stargardt.

Im Spielen der Kinder wurde der Wahnsinn des Krieges zum Alltag. Ghettokinder imitierten in ihrem Spiel die Rollen von SS-Chargen und spielten Häuserdurchsuchungen, Verfolgungen, Auspeitschungen und Gefangennahmen nach. Die stärksten Kinder waren die Deutschen, die schwächeren wurden gequält. Im KZ Birkenau inszenierten Kinder Rollenspiele, die den KZ-Alltag mit Blockältesten, Kapos und Wächtern fast eins zu eins wiederholten. Selbst für die Reinszenierung der Todesschreie aus den Gaskammern hat Stargardt Belege gefunden.

Dass Kinder in Kriegen zu Opfern werden, ist nicht überraschend. Stargardts Buch aber zeigt, was dies für die Kinder bedeutet, wie sich dies auswirkte. Und das ist sein eigentliches Verdienst.

Maikäfer flieg!

Hitlers Krieg und die Kinder

Von Nicholas Stargardt

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006, 608 Seiten, geb., e 35,90

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