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Das neue Buch von Jünger

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Ernst Jüngers Tagebuchwerk zum zweiten Weltkrieg umfaßte bisher die Bücher „Gärten und Straßen“ (1939/40) und „Strahlungen“ (1941—1945)'. Die vor kurzem erschienenen „Jahre der Okkupation“ enthalten Aufzeichnungen vom April 1945 bis Dezember 1948 und wurden vom Autor — wohl auf Grund unangenehmer Erfahrungen, die er mit den „Strahlungen“ gemacht hat — erst jetzt, nach zehn Jahren, zur Veröffentlichung freigegeben. — Wie man erfährt, handelt es sich bei diesem Buch um die Auswahl, um ein Konzentrat von weit umfangreicheren Aufzeichnungen; und wie man weiß, pflegt Jünger, der aus dem Tagebuch eine Kunstform gemacht hat, nachträglich seine Notizen zu überarbeiten. Aber das Wesentliche ist erhalten geblieben: man spürt auf jeder Seite den brandigen Hauch der „ungllaublichen“ Zeit, und man bewundert immer wieder den Mut des Autors, der auch das Unpopuläre, die bittere Wahrheit auszusagen nicht scheut.

In Rußland und in Frankreich war Jünger während dieses letzten Krieges selbst jahrelang Okkupant gewesen. Nun erlebt er in Kirchhorst, unweit von Hannover und dicht an einer großen westöstlichen Durchzugsstraße, die fremde Besatzung. — Die letzten Kriegswochen ziehen wie ein makabrer Film vorüber: nach den siegreichen Amerikanern folgen plündernde Polen und Russen aus den Arbeitslagern und befreite Franzosen. Schlimmer freilich als diese — relativ geringen - Unbequemlichkeiten sind die Schreckensnachrichten aus den deutschen Ostgebieten, wo, wenn man den Rundfunkmeldungen Glauben schenken wollte, ein neuer Frühling die Bevölkerung beglückt. In dieser Zeit beginnt Jünger seine dritte Gesamtlektüre der Bibel, wobei sich das Buch Hiob und Jesaja als besonders „aktuell“ erweisen. — Freunde von früher ziehen durch, Verwandte tauchen auf: jede Begegnung ist ein Geschenk. Was ringsum geschieht, ist schrecklich genug, daneben blühen Gerüchte und Greuelmeldungen. (Ob ein russischer Stabsarzt das Ergebnis der Untersuchung zweier verletzter deutscher Mädchen in die Worte zusammenfaßte: „Stellen Sie sich doch nicht so anl“ ist mehr ab{ unwahrscheinlich. Wie soll er das gesagt haben? Auf Deutsch? Oder auf Russisch — wer hat ihn dann genau verstanden? Denn Jünger kommt es ja auf den Wortlaut, den Tonfall an. Außerdem ist die zitierte Wendung typisch deutsch, sprachlich und gedanklich ...)

Aber solche Schiefheiten begegnen uns bei Jünger ziemlich selten. Im ganzen hat er sich für die Ereignisse einen ruhigen, sachlichen Blick bewahrt und seine Reaktionen auf menschliches Leid sind anders geworden als in früheren Zeiten. (So zeigt auch eine Photographie Jüngers aus der letzten Zeit weichere, mildere Züge als früher.) Mit zunehmender Beruhigung der Lage, nachdem der Katarakt der Ereignisse einmal die engste Stelle passiert hat, nehmen in Jüngers Aufzeichnungen Gespräche mit Freunden, vor allem mit den beiden Brüdern, Lektüreberichte und Meditationen sowie die Beschwörung vergangener Tage breiteren Raum ein. Ueber den Widerstand gegen Hitler, wie er in höheren deutschen Offizierskreisen existiert hat, besonders bei den in Frankreich stationierten Militärs, weiß Jünger Authentisches zu berichten. Was er hier festhält, hat dokumentarischen Wert. Sein Urteil über Hitler ist sehr maßvoll und zurückhaltend, manche Stelle liest sich geradezu befremdlich (weil Jünger seine geistigen Maßstäbe an ein Phänomen anlegt, das diesen absolut nicht entspricht). Aber das ist wohl aus dem Ehrgefühl und der Haltung des ehemaligen Offiziers zu erklären, der ja nicht in den Verdacht geraten will, post festum sein Mütchen an einem zu kühlen, vor dem einst die halbe Welt zitterte.

Am Weihnachtstag des Jahres 1945 schreibt Jünger in sein Tagebuch:

„WeMH man über unsere Landstraßen geht, kann man Gestalten begegnen, wie man sie nie gesehen hat. Es sind die Heimkehrer mit ihrer grauen Aura von allerletztem Leid. Ihnen ist alles zugefügt, was uns von Menschen zugefügt, und alles geraubt, was uns von Menschen geraubt werden kann“ (S. 223).

Nur knapp 100 Seiten umfassen die Eintragungen aus den Jahren 1946 bis 1948. Das Tagebuch wird jetzt lockerer geführt. Jünger beginnt die Vorarbeiten zu seinem neuen Roman „Heliopolis“. Am Ende des Buches stehen Meditationen über das bedeutende Wort „Doch im Innern ist's getan“.

„Es gibt einen Abschluß unserer Handlungen im Absoluten, eine Ergänzung, die unabhängig ist vom Gelingen oder vom Scheitern. Das ist ein gewaltiger Trost.“

Dieser Gedanke taucht auch schon in früheren Schriften Jüngers auf, zum Beispiel in den „Marmorklippen“, und Jünger fährt weiter fort:

„Es gibt stets einen zweiten Adressaten, an den unsere Worte, Taten und Gedanken gerichtet sind.“ | So wurden für Jünger die Jahre der Okkupation auch zu Jahren der Beschäftigung mit sich selbst und mit jenen Quellen, aus denen dem verstörten Geist Hilfe zufließt. Sie wurden für den Autor der „Stahlgewitter“ und des „Arbeiters“ zu Jahren der — nicht nur literarischen — Fruchtbarkeit und Reife.

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