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Das Zeugnis der Burg

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Österreich kämpft um seine äußere und innere Existenz. In Bälde soll vor dem Forum der Weltöffentlichkeit über sein Schicksal verhandelt werden. Zeugen für und audi Zeugen gegen Österreich werden auftreten. Gespannt blickt die Welt auf uns, welches Zeugnis wir selbst für uns geben werden — sie wartet auf unsere Leistungen. Zu den vielberufenen Aktivposten unseres Landes hat immer die „Kultur“ gehört. Mit Schmerz müssen wir feststellen, daß eines unserer ersten Kulturinstitute wider uns zu zeugen scheint. Die Leistungen des Burgtheaters sind gegenwärtig weder dieser Stunde noch des Landes würdig. Seit dem „Umbruch“ erfreut die Burg ihr Publikum mit einem Spielplan, der alte Glanz- und Prunkstücke mit leichter Spreu mischt.

Wir fragen: Sind die Leiden unseres Volkes in diesen Jahren nicht der Darstellung echten Schmerzes und echter Freude wert, wie es gutem Schauspiel zukommt? Ruft das uns lange aufgezwungene Schweigen nicht nadi dem guten körnigen Wort geformter Kultur, der Herz und Sinn pressende Druck der langen Einsamkeit nicht nach ihrer Lösung im schönen Gespräch des Menschlidien, wie es guter Bühne ziemt?

Das nicht ausgesagte Leid unserer Toten, die Not der Lebenden ruft nach Bewältigung in der Tat echten hohen Theaters. Denn dies war immer Zeichen und Zeit, d i e Stunde des Schauspiels: in der Wende, in der Krise, zwischen Gestern und Morgen wächst die Tat des dramatischen Dichters, des Sehers, der die Sätze und Gegensätze, Gründe und Abgründe überblickt und in umfassender Schau aus Höhe und Tiefe das Spiel formt.

Wahres Sdiauspiel ist nur dort, wo das Spiel einer Schau entspricht. Die Schau aber

setzt Weltanschauung, Verantwortung, Verpflichtetsein der Gesellsdiaft, der Gemeinschaft gegenüber voraus.

Wenn je Zeiten reif sind für echtes lebendiges Theater, dann sind es die Epochen des Übergangs, der Wende, der Krisis. Am Eingang der französischen Revolution steht die Komödie des Beaumarchais, die russische Revolution schafft ein neues Theater in Stil, Regie, Dramatik des Geschehens, und überall dort, wo in den letzten zwanzig Jahren in Europa ernsthaft um eine Bewältigung der Krisis durch eine neue Schau, dk Schau einer neuen Ordnung, gerungen wurde, entstanden auch neue Theater. Heute haben diese Bewegungen weit über Europa hinaus Amerika, Indien vor allem China ergriffen, dessen Widerstandskraft im langen Krieg gegen Japan nicht zuletzt durch den mutigen Einsatz junger Schauspielgruppen in Front und Hinterland gestärkt wurde. Wir alle kennen die Wucht des Eindrucks mandier Hörspiele, die' wir im geheimen während des Krieges im Rundfunk hörten. Wir alle wissen auch, wie erbittert und fanatisch das Dritte Reich um ein neues Theater rang; manchmal, in erstaunlich hochwertigen Leistungen, schien es sogar, als wollte es den geplagten Volksmassen auf der Bühne jenes Menschliche und Menschenwürdige geben, das es ihnen im Leben wegstahl.

Je schwankender die Bretter der Welt dem prüfenden Auge erscheinen, je tiefer in Schatten und Zwielicht die Farben und Werte einer alten Welt vergleiten, um so standfester, kraftvoller, leuchtender hat die Sdiaubühne, weldie ihrer Sendung bewußt

M, tüte ewige Ordnung des Menschlichen im Wandel, in der Überwindung des Zeitlichen durch das Opfer des tragischen Helden herauszustellen.

Von einem festen Standpunkt aus gesehen, erscheinen die Probleme des Spielplans als vordergründig, so etwa jenes oft berufene, ob modern-revolutionäre oder altklassische Stücke zu spielen sind! Nichts wirkt revolutionärer, wahrhaft umwälzender und in diesem Sinne zeitgemäßer als die Herausstellung der ewig gleichen Konflikte von Gewissen, Schicksal, Schuld und Freiheit im sogenannten klassischen Drama, nichts langweiliger als die gesichtslose somnambule Kreierung moderner Stücke. Echtes Drama aller Zeiten ist befähigt, Zeugnis ab-

zulegen von allen mensschlichen urrd unmenschlichen Konflikten, welche uns heute und hier bedrängen; es wartet nur auf den, der bereit ist, dieses Zeugnis aufzunehmen und vorzutragen: in Aufführungen, die nicht durch schauspielernde Routine, sondern durch ein waches, bebendes Gewissen gefeilt sind.

Auf solche Aufführungen wartet unser Volk, es will sein Leid erklärt und verklärt, zur Freude geläutert wissen; wartet unsere Jugend, die sich nach echter Führung durch das beispielgebende Vorleben des Menschlichen sehnt. Echtes Schauspiel als Deutung, Richtmaß und Überwindung der Zeit — wann wird es uns die Burg schenken?

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