Die Literatur als Richterin

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Wladimir Makanins Roman-Plädoyer für die moralische Bedeutung der Literatur.

Es muss schwer gewesen sein, aus der großen Anzahl bedeutender russischer Schriftsteller den einen auszuwählen, der die Eröffnungsrede bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse halten sollte. Die Wahl fiel auf Wladimir Makanin. Und nach der Lektüre seines knapp 700 Seiten fassenden Romans "Underground oder Ein Held unserer Zeit" glaubt man zu verstehen, warum.

Ein Roman, dessen Titel bereits dazu zwingt, sich zwei Klassiker der russischen Literatur in Erinnerung zu rufen, Lermontows "Ein Held unserer Zeit" und Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus dem Untergrund", und dessen Thema im Letzten nichts anderes zu sein scheint als die russische Literatur, ihre Geschichte, ihre Autoren, ihre Helden, ihr Vermächtnis.

Mehr als einer

Petrowitsch heißt der Ich-Erzähler. Ein alternder Mann. Zu Breschnew-Zeiten ein in den Untergrund verbannter Schriftsteller, der nach 15 Jahren Tätigkeit über exakt 121 Ablehnungen seiner Manuskripte verfügt. Die Zeiten haben sich geändert. Wir befinden uns Anfang der neunziger Jahre. Aber Petrowitsch schreibt nicht mehr. Er besitzt keinen eigenen Raum. Dafür passt er in einer Mietskaserne, "Wohnheim" genannt, auf Wohnungen anderer auf, kann sie benützen, während die Besitzer verreist sind. Petrowitsch will sein Ich erhalten, was Anpassung auch an die nun "demokratisch" genannten Verhältnisse ausschließt. Er wird im Verlauf des Romans zwei Morde begehen. Er steigt ab, ins Obdachlosenasyl und in die Psychiatrie. Und er wird am Ende die Hölle überlebt haben.

Petrowitsch ist ein Konstrukt, ist mehr als einer, ist die Transfiguration einer Reihe russischer Romanhelden, von Lermontows Petschorin über Raskolnikow bis zu Jerofejew auf seiner Reise nach Petuschki. Das gesamte Personal des Romans, insbesondere Petrowitsch' zu Sowjetzeiten gewaltsam psychiatrisierter Bruder Wenja, wird in intertextuelle Bezüge eingepasst.

Mitleiden mit den Opfern

So ist die Literatur der eigentliche "Held" dieses Romans. Sie ist auch die einzige, die Petrowitsch als Richterin akzeptiert. Seine Gewissensnot lässt ihn beinahe den Verstand verlieren, doch er kann niemandem die Morde gestehen, da kein Mensch seiner, der postsowjetischen Gesellschaft frei ist von Schuld und über moralische Integrität verfügen würde.

Petrowitsch rettet sich selbst, indem er sich auf den "letzte(n) Gedanken der großen russischen Literatur" besinnt, den Gedanken des Mitleidens mit den Opfern gesellschaftlicher, politischer Gewalt. Er beobachtet in der psychiatrischen Anstalt die Misshandlung eines alten Mannes. Selbst von den Medikamenten bereits an den Rand des Selbstverlusts gebracht, zwingt er sich zu fühlen: "Wie gibt's denn so was? tadelte ich mich. Und warum bin ich - so? [...] Warum schaue ich, ein Mensch der russischen Literatur, so gefühllos zu, wenn Gewalt verübt wird?"

Literatur als moralische Instanz: Es ist die Leidenschaft für diese russische Tradition, die Makanins Roman trägt, der doch gleichzeitig vom Verlust derselben erzählt. Ein Abgesang? Nein - dazu ist dieser Roman zu wortmächtig, zu schmerzend und zu meisterlich die Tradition vergegenwärtigend.

Underground

oder Ein Held unserer Zeit

Roman von Wladimir Makanin

Aus d. Russ. v. Annelore Nitschke

Luchterhand Literaturverlag,

München 2003

700 Seiten, geb., e 25,70

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