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Die Notkircfae unserer Zeit

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Im Jahre 1932 — wenn ich mich recht erinnere —, sicherlich lange vor Ausbruch des letzten Krieges, traf ich in einem Wiener Kaffeehaus einen Freund, und unser Gespräch wurde von anderen Problemen zuletzt auf die Frage gelenkt, warum allen Versuchen, die Bestrebungen der modernen Kunst für eine neue Gestalt der Kirche fruchtbar zu machen, die innere Notwendigkeit mangle. Daß sie auch den bestgemeinten und ernstesten Versuchen mangle, darüber waren wir einig. Dann aber warf mein Freund, wie um abzuschließen, die Bemerkung hin, daß in unserer gegenwärtigen Lage nur noch die Not diese Notwendigkeit bewirken könne. Befragt, wie er diesen Satz verstanden haben wolle, fügte er folgendes hinzu:

„Die notwendige Gestalt des Kirchengebäudes unserer Zeit wird sich ganz von selbst ergeben, wenn die äußerste Not eingetreten sein wird. Darunter verstehe ich zunächst wirklich die größte äußere Not, die der nächste Krieg unfehlbar mit sich bringen wird. Der Abwurf von Bomben aus Flugmaschinen, vielleicht von Giftgas und bisher unbekannten Kampfstoffen wird die Menschen der Städte in Mengen unter die Erde jagen. Katakombenartige Räume tief unter der Erde und geschützt gegen das Eindringen von Gas und Rauch der Brände werden sie aufnehmen, unterirdische Spitäler werden in Verbindung mit diesen Zufluchtsorten entstehen. Der Mensch wird aufs äußerste geprüft werden. Feigheit und Größe, Egoismus und Barmherzigkeit werden sich unerwartet zeigen. Dann wird aber auch nach der Kirche gerufen werden aus Tiefen, die unserer lauen Zeit fremd waren. Und die Kirche wird unter die Erde gehen, neben den Spitälern werden unter der Erde Kirchen entstehen.”

Die Gestalt der neuen Kirche

Er fuhr fort: „Ich sehe die Gestalt dieser neuen Kirche vor mir. Ein einfacher rechteckiger Saal, ohne architektonische Gliederungen und Zierate, die hier keinen Sinn mehr hätten, roh aus unverputztem Beton hergestellt, der noch die Spuren der verschalenden Bretter zeigt. Natürlich ohne Fenster. Der Raum wird schmal sein, fast wie ein Gang, um besser der Wucht von Einschlägen widerstehen zu können, gewölbt so wie der Beton es verlangt, nicht in vollem Bogen, sondern in flachem Segment. Aber sehr hoch, um viel unverbrauchte Luft zu enthalten. Die Türen klein, denn sie werden wie Schoten eines Schiffes die aneinanderstoßenden Räume abschließen, um jede Verbreitung einer Gefahr abzudämmen. Einfache Bänke, leicht beiseite zu räumen. Licht werden nur wenige Kerzen geben, vielleicht nur die auf dem Altar, denn die Elektrizitätswerke der Stadt könnten zerstört werden, es wird kein Verlaß auf sie sein.”

Ein wenig enttäuscht wandte ich ein, die Vision dieser neuen Kata- kombenkirche sei überzeugend, aber nichts sei damit über die Kunst gesagt. Denn diese Kirche sei eben kunstlos, reiner Zweckbau, und das scheine damit zusammenzuhängen, daß er den Begriff der Not zu äußerlich fasse.

Diese Kirche ist wahr

Er ließ sich aber durch meinen Einwand nicht irre machen. Die Überlegenheit der Kirchengestalt, die er beschrieben habe, bestehe eben darin, daß sie genau dem Notwendigen entspreche, und ich sei im Irrtum, wenn ich das nur auf das Äußerliche beziehe. Diese Kirche sei in einem inneren Sinn wahr, denn sie sei nicht ausgedacht, und nur in der Sphäre der Wahrheit könne die Kunst gereinigt werden und sich erneuern.

Dann setzte er fort: „In dieser Umgebung wird die Kunst mit dem Menschen geprüft werden, ob sie ein Licht enthält, das in der Finsternis leuchten kann. Stellen Sie sich die meiste Kunst unserer Tage an diesen Ort gebracht vor und ohne ein Wort ist das Gericht über sie gesprochen. Doch gibt es Ausnahmen, und um der wenigen willen wird vielleicht auch der modernen Kunst vergeben werden. Übrigens wird von Kunst zunächst vielleicht nichts da sein als ein großes geschnitztes Kruzifix hoch über dem Altar, selbst im Dreivierteldunkel noch allen sichtbar. Um aber hier zu bestehen, muß das Bild mehr darstellen als nur das Schreckliche eines Menschen, den andere gekreuzigt haben, denn dieser Schrecken könnte durch die Wirklichkeit jener Tage überboten werden. Es kann aucn nichts psychologisch Tröstendes in das Büd gelegt werden, denn davon würde an diesem Ort nichts sichtbar sein. Es muß von dem Werk eine große Ruhe, etwas Überwindendes ausgehen, das sich denen zwingend mitteilt, die in großer Not zu ihm aufblicken.”

Ich mußte dabei an eine Ikone denken, obwohl ich wußte, daß mein Freund ein Werk der modernen Kunst vor sich sah, und ich versuchte im Geiste, die gleichsam sakramentale Kraft der Ikone mit dem Aufschrei der neuen Kunst zu verbinden, in dem wir uns selbst erkennen.

„Von diesen ersten Werken der Kunst aber wird, wenn sie gelingen dürfen, eine Erneuerung der Kunst ausgehen.” Ich schwieg.

„Vielleicht könnte es”, meinte er nach einer Weile, „doch auch andere Bilder hier geben. Aber Weniges, was wir aus unseren Kirchen kennen, selbst Liebgewordenes nicht, könnte hier bestehen. Daß jemand hier in gemeinsamer Not sich von den Brüdern absondere zu einer privaten Andacht vor einem rührenden Heiligenbild, ist kaum zu denken. Gemeinsam wird die Not, das Gebet und das helfende Bild sein.”

Bilder der Rettung

„Manchmal denke ich, daß es sehr wohl hier noch andere, gemalte Bilder an den Wänden geben könnte, aber wenn ich auszudenken versuche, welcher Art diese Bilder sein müßten, um hier ein Daseinsrecht zu haben, scheint es mir, daß höchstens Bilder der Rettung hier am Platze wären. Und nicht deshalb, weil ich weiß, daß solche Bilder auch zu den alten Katakomben gehörten, sondern rein aus dem Geist der Sache heraus. Dann glaube ich mitunter, die drei Jünglinge im Feuerofen, Jonas und das Ungeheuer, die Arche auf wilden Wassern, den aufgeweckten Lazarus zu sehen, oder die Heimkehr des verlorenen Sohnes, gemalt von Meistern unserer Tage, denen die Darstellung des Grausigen und Elementaren so leicht und die des inneren Lichts und der Hoffnung so schwer fällt, denen es aber vielleicht doch gegeben sein könnte, aus der Asche ihrer fruchtlosen Visionen einen Funken anzufachen. Und so werden die Bilder wahrer sein, als wenn sie sich ein falsches Licht erborgten. Denn sicherlich würde die trostlose Wand hinter dem Gekreuzigten nach dem Auferstandenen rufen, doch halte ich keinen der Lebenden für fähig Sein Bild zu gestalten, wie es auch in der Vergangenheit, als es noch viel frömmere Menschen und Künstler gab, kaum einem gelungen ist.”

„Doch sind das”, fügte er etwas unsicher geworden hinzu, „nur noch Überlegungen. Die Kirche unter der Erde habe ich aber wirklich gesehen.” Damit endete unser Gespräch.

Ich weiß nicht, ob es in dem Kriege die Kirche unter der Erde irgendwo gegeben und wie sie ausgesehen hat. Ich weiß nur, daß sie notwendig gewesen wäre. Und in den fünfzehn Jahren, die seit diesem Gespräch vergangen sind, wollte mir immer mehr einleuchten, daß auch die Kunst durch die Gruft gehen müsse, um wieder auferstehen zu können.

Deshalb habe ich oft bedauert, meinem Freund damals nicht zu einer Veröffentlichung seiner Gedanken zugeredet zu haben. Weniger meine Einwände als eine gewisse nicht ganz überwundene Skepsis in mir, die uns so oft anhängt, schien ihn insgeheim zweifelnd gemacht zu haben. Und da ich gewissermaßen selbst daran schuld bin, daß niemand von der Notkirche unserer Tage weiß, habe ich mir vorgenommen, von ihr zu berichten.

Und ist es denn schon wiederum so sicher, daß die Zeit der Prüfungen zu Ende ist und wir diese Kirche nicht mehr brauchen werden?

(Geschrieben im Jahre 1947)

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