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Die Zeit okne Zeit

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Wir leben in einer Zeit, die keine Zeit hat und an der das Erstaunlichste ist, daß die Fußballspiele immer noch 90 Minuten dauern und daß nach Super-Technicolor-Monster-3D-Filmen überlanger Spieldauer eine lebhafte Nachfrage zu bestehen scheint. Aber eben diese 90 Minuten oder zweieinhalb Stunden gewinnen wir teilweise durch die Konzentrierung unserer übrigen Lebensäußerungen und die raschere Abwicklung vieler Vorgänge.

Der Personenzug ist für Persönlichkeiten, ja selbst für die meisten Personen, schon viel zu bummelig und auch der Schnellzug ist zu langsam geworden: D-Zug ist das Mindeste geworden. Statt mit einer Menschenkraft durch die Landschaft zu bummeln, ratt man mit sechs bis hundert Pferdekräften durch eben diese. An die Stelle behaglich gekauter, ja geradezu wiedergekäuter Phäakenmahlzeiten treten Sandwiches, kleine Mokka und heiße Würstel:die Gicht stirbt aus und die Magengeschwüre wuchern.

Die kalligraphisch gemalten und mit prunkvollen Initialen verschnörkelten Briefe welken in Archiven, und ihnen sind 180 Silben und 340 Anschläge pro Minute gefolgt. An Stelle der Priyatbriefe ist überhaupt weitgehend die Urlaubsansichtskarte, die Glückwunschkarte und das Telephongespräch getreten. .

Nach der Sonnenuhr und. der Sanduhr sind wir nun — nach etlichen Zwischenstadien — bei der Stoppuhr gelandet. Das ist auch nicht verwunderlich, denn eine einzige Sekunde Fernsehsendezeit kostet einen so erheblichen Betrag, daß die Stoppuhr entscheidend wird. Die Sanduhr mag dem SokAtes genügt haben, für die Rundfunkwerbesendung „Am Hofe des Schnürlsamt-Königs“ geht es um halbe Sekunden. Selbst der Tod hält sich heutzutage weniger an das Stundenglas als an den Tachometer.

Um die Jahrhundertwende gab es einen Schüttelreim, der besagte „Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie.“ Heute ist die Neurasthenie unmodern geworden. Sie war die Modekrankheit einer für uns viel zu langsamen Zeit. Heute trägt man Managerkrankheit, diese Krankheit, deren geradezu reklame-haft werbender Name allein schon von zugkräftiger Symbolik ist. Die Medizin hat uns aber die Einsicht gebracht, daß man zuweilen rasten muß, $nd um dieses Rasten bemühen wir uns strebend und hastend: „See Europe in ten days“, „Autobusrundfahrt durch Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, die Schweiz und Oesterreich, je ein halber Tag Aufenthalt in Paris, Biarritz, Barcelona, Nizza, Torbole, Sankt Moritz, Salzburg und Heidelberg“, „25 Minuten im Louvre“.

Das alles zielt darauf ab, den Leerlauf auszuschalten, mehr Höhepunkte zu raffen, das Unökonomische, Unproduktive zu eliminieren: Beethoven-Konzert mit den charakteristischsten Stellen aus den beliebtesten Symphonien (15 Minuten „Eroica“, 80 Takte aus dem langsamen Satz der Fünften, „Freude, schöner Götterfunken“, vier Minuten Mondscheinsonate, kurze, aber lebhafte Wut über den „Verlorenen Groschen“, abschließend Hornsignal aus der „Leonoren“-Ouverture Nr. 3).

Es wird also Zeit gewonnen. Man könnte fragen: Freizeit wofür? Für Tour de France im Fernsehen? — Aber diese Frage ist fast schon voreilig. Denn zunächst einmal müßte man fragen: Wird denn überhaupt Zeit gewonnen?

Das, erscheint unleugbar. Die Produktivitätsziffern bauen sich ehrfurchtheischend auf, die statistischen Kurven knistern steil über das Millimeterpapier. Und alles ist zweifellos richtig. Bloß im Alltag stimmt es nicht immer so ganz, da bricht die Hypertrophie der Konzentrate, aus: Abkürzungen ballen sich aneinander, bis sie um nichts kürzer, aber um vieles unverständlicher, sind als Worte der alten Spracher UNRRA. SEATO, UNIVAC und MASER (das heißt microwave amplification. by stimu-. Iated emission of radiation; ein Elektronenhirntyp). Das zeitsparende Telephon wird zum kafkaischen Foltergerät: das weiland Bittschreiben an den Landesherrn löst sich auf in eine Vielfalt von Klappennummern, Amtsstunden und Stempelgebühren. Die gewonnene Zeit verrinnt in Wartezimmern und auf Korridoren.

Gewiß, man fährt mit Roller oder Kleinwagen zur Arbeit und spart Zeit, aber früher waren eben die Orte kleiner, die Entfernungen entsprechend geringer und man war zu Fuß rascher. (Wenn man dann übrigens genügend Zeit mit dem Fahrzeug gespart hat, kann man sie nutzbringend zum Aufsuchen eines Parkplatzes verwenden.)

Einst trafen am Abend nach der Schlacht die beiden Feldherren einander und handelten einen Waffenstillstand aus. Darnach fuhr ein Sonderbevollmächtigter sechs Tagereisen weit mit Kurierpferden in das feindliche Land und drei Wochen darnach hetzte ein Bote staubbedeckt zurück und berichtete vom Friedensabschluß. Heute reisen die Außenminister im Flugzeug um die halbe oder auch ganze Welt, aber zu den Konferenzen kommen Waggonladungen von systematisch geordneten und indizierten Dokumenten, und der Weg vom kalten Krieg zum kühlen Frieden zieht sich länger als einst vom heißen Krieg zum vollen Frieden.

Zeit ist etwas Relatives und ihre Relation ist das menschliche Leben. Das währt noch immer nicht viel länger als die biblischen „siebenzig Jahre“ (die erhöhte, Lebenserwartung der Neugeborenen betrifft mehr die Statistiken und die Versicherungen) und muß ausgefüllt werden. Dazu dienen einmal Gastmähler und ein andermal Existentialistencafes. einmal der Wanderstab und ein andermal die Lenkradschaltung, einmal Disputation und ein andermal das Radioparlament. Die wesentlichen Unterschiede sind gering.'

Die Zeit ist anders. Nicht schlechter, nicht besser — anders. Die Menschen, die sie formen, sind fast gleich.

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