Fragile Gefühlswelten

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Rabea Edels Romanerstling "Das Wasser, in dem wir schlafen".

Wie in vielen Familiengeschichten beginnt alles mit einer Zeugung, die von Missgeschicken begleitet ist: "Meine Schwester wurde auf einem Autobahnrastplatz [...] gezeugt, [...] und als Vater viel zu schnell [...] kam, löste sich die Handbremse, und das Auto rollte einige Meter weit, stieß sacht [...] gegen den Stamm eines Baumes, der neben den Mülltonnen am Straßengraben [...] sich krumm und alles andere als elegant in meine Richtung bog und dem Wagen standhielt." Von ihrer Mutter kurzerhand unter Bäume in den Schatten gesetzt, sieht die Ich-Erzählerin in Rabea Edels Schwesternroman - sie ist gerade zwei Jahre alt - der hastigen, beinahe mit einem Unfall endenden Zeugung ihrer Schwester Lina zu. Ein Ereignis, das sich dem Kind visuell über die "geöffneten Augen" des Vaters, den "starren Blick" der Mutter, akustisch über das "Knirschen von Metall auf Holz" und haptisch über das Aus-den-Augen-Wischen der Fliegen eingeprägt hat.

Weibliche Identitätsfindung

Mit dem Schwestern-Thema und den damit verbundenen Weiblichkeitsbildern hat sich die Literatur von Euripides bis Peter Härtling immer wieder beschäftigt. Marie-Thérèse Kerschbaumer, Keto von Waberer oder Renate Welsh haben über das Schwestern-Motiv nicht nur facettenreich Familiengeschichte als Gesellschaftsgeschichte gezeigt, sondern sie legten über antagonistisch angelegte Schwesternkonstellationen vor allem auch die Schwierigkeiten weiblicher Identitätsfindung und Verhinderungen des weiblichen Selbst bloß.

Schwester als Spiegel

Auch in Rabea Edels Debütroman wird die Schwester zum Spiegel der Ich-Erzählerin, einer jungen Erwachsenen. Sie entfaltet introspektiv ihre und Linas Geschichte, die von der schwierigen, von Verlust geprägten Beziehung zur Mutter grundiert ist und deren psychodynamische Sprengkraft mit dem Erwachsenwerden und der Entdeckung der Sexualität in die Katastrophe führt. Rückblickend konfrontiert sie Gregor, ihren ersten Geliebten, der zugleich auch Linas Liebhaber wird, mit der - trotz kindlicher Rivalitäten - symbiotischen Schwesterbeziehung. Gregor ist Störfaktor, zugleich aber auch obsessiv begehrtes Objekt, über das sich die Nähe zur Schwester, vielleicht auch zur Mutter, die die Familie verlassen hat, wieder herstellen lässt.

Rabea Edels weibliche Figuren bewegen sich in ihren Beziehungen zwischen emotionaler Erstarrung und leidenschaftlicher Hingabe und Auflösung. In ihrer psychischen Bedürftigkeit sind Lina und die Ich-Erzählerin allerdings nur mehr blasse Schwestern Antigones, Ismenes, Elektras und Chrysothemis'.

In dieser Schwesterngeschichte tritt die Handlung zugunsten eines Erzählens in Bildern zurück. So wird das stundenlange, wortlose Stehen der Mutter am Fenster zum Audruck der gescheiterten elterlichen Beziehung. Es kontrastiert mit ihren sexuellen Eskapaden. Und der moorige See nahe des Elternhauses, Verlockung und Geheimnis, den im Sommer die kreatürliche Natur in Besitz nimmt und der sich im Winter mit einer gefährlich dünnen, dunkelgrün glänzenden Eishaut überzieht, wer würde ihn nicht als Bild für die fragile, sexuell konnotierte Gefühlswelt der heranwachsenden Schwestern lesen?

Gelungene Bilder

Diese Bilder sind nicht neu, auch die Nähe zu Judith Herrmann oder Zoe Jenny ist nicht zu übersehen - und dennoch: Der 1982 geborenen Autorin sind in ihrem Erstlingsroman Beschreibungen familiärer Konstellationen und Bilder seelischer Verfassheiten gelungen, die, auch wenn man sie zu kennen meint, in Erinnerung bleiben.

Das Wasser, in dem wir schlafen

Von Rabea Edel

Luchterhand Literaturverlag, München 2006. 159 Seiten, geb., e 17,50

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