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Julian Nida-Rümelins flammendes Plädoyer für das humanistische Bildungsideal.

Deutsche Soldaten durchkämmen kurz nach dem Fall Warschaus im November 1939 die Stadtviertel, in denen orthodoxe Juden leben, und fragen nach Rabbi Schneersohn. Der Zweck der Suche nach dem spirituellen Oberhaupt der Lubawitscher Chassidim ist nicht die Verhaftung, sondern Rettung. Die Flucht über Riga nach New York gelingt.

Die Fluchthelfer repräsentieren eine sonderbare Koalition: NS-Repräsentanten wie Abwehrchef Admiral Wilhelm Canaris und der "halbjüdische" Major Ernst Bloch, der durch die Unterschrift Hitlers für "deutschblütig" erklärt wurde auf der einen Seite, amerikanische Diplomaten und Rechtsanwälte auf der anderen.

Der amerikanische Historiker Bryan Mark Rigg hat die "unglaubliche Geschichte aus dem ersten Jahr des Krieges" recherchiert und setzt damit seine Forschung fort, die mit der Dokumentation "Hitlers jüdische Soldaten" für Aufsehen gesorgt hat.

Die genauen Beweggründe der jeweiligen NS-Mitspieler kann der Autor nicht erläutern, nachdem er religiöse ebenso ausschließt wie explizit politische und finanzielle. Gerade weil die Antriebskräfte für die Flucht im Unklaren bleiben, wird die mehrfach paradoxe Situation umso deutlicher.

Im Einzelfall von Schneersohn und seiner Familie wird zum Beispiel die skandalöse Ignoranz der amerikanischen Behörden sichtbar. Obwohl das amerikanische Einwanderungsgesetz Geistlichen die unbeschränkte Einreise in Amerika garantierte, bezweifelte die Visabehörde die "Verwendungsfähigkeit" des Rabbi. "Angesichts der Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit des amerikanischen Außenministeriums gegenüber jüdischen Einwanderern ist es kein Wunder, dass die Beamten [...] den Antragstellern so viele Steine wie möglich in den Weg legten."

Seit 1940 war Breckingridge Long der stellvertretende Außenminister, der als Antisemit galt und von Präsident Roosevelt mit der Politik gegenüber den Flüchtlingen aus Europa betraut worden war.

"Messianische Wehen"

Der Umstand, dass es selbst für einen Rabbi, der eine Lobby von mehreren Tausenden Anhängern hinter sich wusste, so schwer war nach Amerika zu fliehen, verdeutlicht die Aussichtslosigkeit für Flüchtlinge ohne Fürsprecher.

Dass der gerettete und in den USA angekommene Rabbi Schneersohn seine Popularität nicht nützte, um auf die Verfolgung der Juden in Europa hinzuweisen, sondern den Holocaust als Strafe Gottes für die vom Glauben abgefallenen Juden ansah und die Vernichtung als "messianische Geburtswehen" bezeichnete, die kurz vor der Erlösung notwendig seien, "wenn der Allmächtige die sündige Welt und die sündigen Menschen reinigt", muss entsetzen. Die Nazis wurden von ihm als Werkzeug Gottes und Ausdruck seines Missfallens gesehen. Die Sorge um die 140 Kisten mit heiligen Schriften beschäftigte den Rabbi mehr als die Rettung seiner Glaubensgenossen.

Wenn Rabbi Schneersohn einerseits von einer sonderbaren Koalition gerettet wurde, so muss auf der anderen Seite jene tragische Koalition aus Ignoranz und Antisemitismus dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie den Nationalsozialismus bei der industriellen Tötung von Juden gewähren ließ.

Rabbi Schneersohn und Major Bloch

Eine unglaubliche Geschichte aus dem ersten Jahr des Krieges

Von Bryan M. Rigg. Hanser Verlag, München 2006. 326 Seiten, geb., e 25,60

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