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Ulrike Kolbs Lektion in Sterblichkeit.

Eine Frau sitzt am Bett eines Mannes. Er liegt nach einem Unfall im Koma. Sie solle mit ihm sprechen, meint der Arzt, sich ihre Stimme wie eine "akustische Nabelschnur" vorstellen. Und so sitzt sie und erzählt - eine Nacht lang erinnert sie den früheren Geliebten an das Leben, versucht ihn aus seinem tiefen Schlaf zurückzuholen.

Menschen, die sich in Todesnähe befanden, erzählen, dass das eigene Leben wie ein Film vor ihnen abgelaufen sei. In "Diese eine Nacht", dem Roman von Ulrike Kolb, sind es die Erinnerungen der Ich-Erzählerin Vera, die sich wie ein Film durch die Nacht spulen. Konfrontiert mit dem möglichen Tod von Zott steht ihr eigenes Leben auf dem Prüfstand.

Auf dem Prüfstand

Vera ist Journalistin, eine Ehe liegt hinter ihr, zwei Kinder hat sie geboren, sie geht auf die 60 zu. Seit ihrer Jugend war Vera mit Zott befreundet, viel später, nach der gescheiterten Ehe, ist daraus eine Liebesbeziehung geworden, ihr Lebensmensch war er immer, Zott, aus dem ein anerkannter bildender Künstler geworden ist.

Kunst ist das zentrale Element in Veras Leben, das, woran sie partizipieren möchte, worauf sie ihre Identität zu bauen versucht. Wenn sie sich selbst, andere Menschen, Situationen zu beschreiben versucht, greift sie zu Vergleichen mit Romanfiguren oder Filmszenen: ein Nebelmond ist "blaugetönt wie in einem Film von Kaurismäki", eine Geburtstagstafel, die sie für Zott ausrichtet, "sollte aussehen wie in einem italienischen Film". Bildungsbürgerlichkeit mit avantgardistischem Lack oder böser: schöngeistig getünchte Spießigkeit einer Generation, in deren melancholischen Erinnerungen zum Beispiel die Szenerien von 1968 nur mehr als Dekorelemente Verwendung finden, die das Leben als reiches und gelebtes erscheinen lassen sollen.

Vera erzählt Zott von den Vorwürfen ihrer Tochter Paula: "sie meinte, wir hätten eben alle so dahingelebt, ohne klare Entscheidungen zu treffen [...], irgendwie seien wir nicht nur nicht erwachsen geworden, sondern wir hätten diese, sie wolle es mal kollektive Macke nennen, auch noch kultiviert."

Was sich hier als Sensibilität und Begabtheit ausgibt, grenzt allzu nah an Egozentrik und Narzissmus. Doch Kolb lässt Vera in dieser Nacht eine Veränderung durchmachen. Beinahe unmerklich wandelt sich der Ton - wirkt die Sprache der Ich-Erzählerin zu Beginn noch über weite Strecken manieriert und die schönfärbende, pathetische Nostalgie befremdend, gewinnt ihr Ton an Authentizität, je tiefer Vera sich auf die Auseinandersetzung auf Alter und Tod einlässt. Das weiße Kleid, in dem sie sich früher "wie eine Frau aus einem russischen Roman" vorgekommen ist, lässt nun "Polster und Dellen", das bisher verdrängte eigene Altern sehen. Die Liebe zu Zott dagegen rückt mehr und mehr in den Rang einer Utopie von Wirklichkeit, die frei ist von Illusion und Selbstentfremdung.

Der Roman endet abrupt. Wie nachhaltig diese eine Nacht und ihre Lektion in Sachen Sterblichkeit sein werden, bleibt offen, der persönlichen Entscheidung jedes Lesers anheimgestellt.

Diese eine Nacht

Roman von Ulrike Kolb

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2003

189 Seiten, geb., e 19,60

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