Andere Engel: "An einem grossen stillen See" von Jutta Richter

"Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein bei mir stehn." Angelehnt an dieses alte Kindergebet, das Generationen von Kindern beim ruhigen Einschlafen geholfen hat, erzählt Jutta Richter von einem Kind, das dem Schutz der Engel nicht vertrauen mag: Wie sollten sie es im Dunkeln sehen? Wenn es doch selbst nichts sehen kann?

Erinnernd an den virtuosen Stil der Renaissancemaler entwirft Susanne Janssen mutige Visionen ganz neuer Engelsbilder, überraschende formatsprengende Absagen an die süßlich goldlockigen Massenprodukte, die gerade in der Vorweihnachtszeit ihr inflationäres Unwesen treiben. Da kann man dem Mitternachtsengel begegnen, auch dem Brennesselengel oder dem Neinengel: "Das muss ein starker Engel sein, der uns den Mut macht für ein Nein." Weiters finden sich im illustren Kreis der Beschützer: der Engel der Langsamkeit, der Frühlingsengel, der Tauben- und der Möwenengel und so fort - bis die Zahl vierzehn aufs Neue voll ist. Ihren speziellen Fähigkeiten und Zuständigkeiten, ihrer besonderen Kompetenz beim Trösten und Stärken wird in Gedichtform Würdigung zuteil. Auch die "Gespensterengel" fehlen nicht: Sie sind die Gegenteile zu den Engeln der Fröhlichkeit und zu ihnen gehört das tiefe Wissen, dass man sich manchmal gegen Traurigkeit nicht wehren soll: "Lass dich umarmen und denk daran: Nur wer weinen kann, kann auch lachen." Denn in der eingeflochtenen Erzählung gibt es neben dem sich vor der Dunkelheit fürchtenden Kind auch den Mann, der selbst keinen Schlaf findet. Er kann mit Hilfe des Geschichtenengels (im Bild wird Goethes Gestalt humorvoll zitiert) die Gabe des Erzählens nutzen. Und er erzählt von außergewöhnlichen Engeln (siehe oben!), die über die Grenzen unserer Sehkraft hinaus den Blick für das Transzendente schärfen - nicht nur im Dunkeln ... Und das Vertrauen darauf stärken, dass es das Unsichtbare wirklich gibt.

Ein Buchtipp von STUBE, Institut für Jugendliteratur und DIE FURCHE

An einem grossen stillen See

Von Jutta Richter

Ill. von Susanne Janssen

Verlag Hanser, München 2003

63 Seiten, geb., e 15,40