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Digital In Arbeit

Odysseus heißt Martinez und fährt mit der S-Bahn durch Berlin

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Die Dinge gehen durch ihn hindurch. Was er sieht." Diese letzten zwei Sätze von Ulrich Peltzers Boman mit dem lakonischen Titel „Stefan Martinez" fassen gleichsam das Programm des hochar-tifiziellen Buches zusammen.

Berlin in den neunziger Jahren und ein Mann im Alter von 28 Jahren, das sind die Helden. Zwei Tage im Leben dieses Martinez sind Peltzer genug, um fast 600 eng bedruckte Seiten zu füllen. Zwei Tage, an denen nichts Außergewöhnliches vorkommt: Stefan Martinez fährt mit der S-Bahn zur Arbeit ins Architekturbüro, geht ins Kaffeehaus, ißt mit seiner Freundin, sieht fern, geht ins Theater, geht einen trinken, geht wieder zur Arbeit.

Es bedarf nicht unbedingt großer Themen für einen packenden Roman. Peltzer heftet sich im Alltag seinem Helden auf den Weg durch die Großstadt Berlin im besten Wortsinne an die Fersen. Seine Detailverliebtheit wird zur faszinierenden Obsession. Gern läßt sich der Leser auf den rhythmischen Erzählalltagstrott ein, den der Autor im zweiten Teil plötzlich von einem Erzähler-Ich unterbrechen läßt. Dieses Ich ist, wie sich bald herausstellt, eine Frau, Stefans Mutter, die ihm im Laufe eines Tages ihre Geschichte erzählt hat. Die Großbaustelle von heute verwandelt sich in das von Bomben zerstörte Berlin im ausgehenden Krieg, die Zeit, in der sie ihren Mann, Stefans künftigen Vater, kennengelernt hat.

Wenn Peltzer dann zum Alltag seines Helden zurückkehrt, ist es, als fände sich der Leser in seiner eigenen Wirklichkeit wieder, wenn er etwa die Minuten an seinem Arbeitsplatz zählt, bis er endlich - wie Martinez -in die U- oder S-Bahn einsteigen und nach Hause fahren darf.

Ganz ohne psychologischen Hintergrund geht es auch bei Peltzer nicht ab, auf der letzten Seite verrät er uns, was in der Tat die Triebfeder für seinen Helden ist. Stefan, ein ständig Suchender, hatte einen Wunsch: „Meinen Vater zu umarmen, nur ein einziges Mal, habe ich mir letztens gewünscht... No regret, no surrender. Trotzdem."

Ein Vater läßt sich indes doch orten - und zwar hinter dem Erzähler: James Joyce. Auf dessen Spuren tastet sich Peltzer langsam durch das Berlin der neunziger Jahre. Egal, ob nun Te-lemach, der Sohn des Odysseus, oder Odysseus selbst Modell für Stefan Martinez gestanden ist.

Ulrich Peltzer hat mit seinem Roman nicht nur bewiesen, daß es auch nach Döblin und Doderer möglich ist, den Großstadtroman zu erzählen. Es gelingt ihm auch, zwei Generationen, jene der heute 20- bis 30jährigen und deren Eltern, zu porträtieren, was von erzählerischer Meisterschaft zeugt.

Ulrich Peltzers Roman hat gute Chancen, einmal zu jenen Romanen unserer Zeit zu gehören, von denen man sagen kann, sie seien geblieben.

STEFAN MARTINEZ

Roman von Ulrich Peltzer. Ammann Verlag, Zürich 1995. 572 Seiten, geb., öS 375,-

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