Wie du es dir vorgestellt hast

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Unser Lektorix des Monats.

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Bereits im Vorsatzpapier fällt ein vereinzeltes dunkles Blatt und noch bevor die Geschichte beginnt, tröpfeln Buchstaben wie ein Hilferuf aus einem Megafon. Doch die Buchstaben verlaufen sich, lassen Schlieren zurück, die sich durch die Bildränder der folgenden großformatigen Illustrationen ziehen. Shaun Tan, zuletzt für seinen animierten Kurzfilm "The Lost Thing" sogar mit dem Oscar ausgezeichnet, gelingt es einmal mehr mit solchen Details zu verführen und ihnen Illustrationen folgen zu lassen, deren Wunderwelten dem Schlaraffenland eine Absage erteilen. Er wählt Formsetzungen industrialisierter Sujets und kombiniert sie mit in sich verschlungenen Fantasiefiguren. Zeit und Raum sind dabei ein wesentliches Stilelement für ihn: Seine großformatigen Bilder scheinen jeden Rahmen zu sprengen und werden kombiniert mit Panels, die minutiös Zeitablaufe in all ihrer Verlangsamung einfangen. Wie hier das Bild des Mädchens, das wartet und dabei die Momente zählt. Sie zeichnet Striche auf einen unbestimmten Untergrund, doch als die Panels nach und nach wegzoomen zeigt sich ein Schneckenhaus – und damit der Inbegriff der nicht und nicht vergehenden Zeit.

Hoffnung in der Traurigkeit

Es ist dieses Mädchen, um das sich die Geschichte dreht und der australische Autor und Illustrator nutzt diesmal seine Formsetzung, um von Traurigkeit und Depression zu erzählen. Das fallende Blatt nämlich dringt ein in das Zimmer eines kleinen Mädchens, in dessen Leben ein Tag "ohne Aussicht auf etwas Schönes" beginnt. Plötzlich überflutet ein ganzes Blättermeer das Zimmer und das Mädchen flüchtet, um sich mit jeder neuen Doppelseite zu bestätigen, das solche Tage "nur noch schlimmer" werden können. Sie flieht hinaus in eine Welt, in der die Öde anwächst, in der das Dickicht der Städte nicht mehr überwindbar scheint, in der die Traumbilder ebenso wie die Wellen hoch schlagen, in der künstlerische Trugbilder nicht mehr funktionieren. Shaun Tan fängt in seinen ausgeklügelten, überbordenden, gemalten und aus unterschiedlichem Material collagierten und dennoch auf einen zentralen Bildeffekt hin gestalteten Illustrationen die Emotion des Mädchens in zivilisationskritischen, ja sogar apokalyptisch gesteigerten Bildern ein. Und dennoch vermag er die Bedrohung mit einfachen Mitteln aufzubrechen: Am Ende des Tages kehrt das Mädchen in jenes kleine Zimmer zurück. Das Blättermeer ist verschwunden und aus einem kleinen roten Blatt wächst der titelgebende rote Baum als Bild der Hoffnung und des Glücks: "genauso wie du es dir vorgestellt hast".

Der rote Baum
Von Shaun Tan
Aus d. Engl. v. Elke Schönfeldt
Carlsen 2012
32 S., geb., 17,40

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