Nadjka fährt in den Himmel

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Svetlana Vasilenko erzählt in ihrem Roman "Die Närrin" die Geschichte einer Kosmonautin im Stil einer Heiligenlegende.

Was ist Russland? Ein Land, das in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr damit beschäftigt war, diese Frage zu beantworten. Der Zerfall der Sowjetunion, die Implosion der staatlich verordneten Ideologie ging einher mit der Aufgabe einer fundamentalen Neupositionierung jedes Einzelnen wie der Gemeinschaft. Im Zuge dieser Definitionsprozesse bildete sich auch eine Vielzahl nationalistisch wie religiös motivierter Bewegungen auf der Suche nach "dem Eigenen", "dem Russischen" und nach einer Neudeutung der Geschichte. Dieser Zeitgeist spiegelt sich in dem irritierenden Roman "Die Närrin" von Svetlana Vasilenko.

Anders als die anderen

Eine Schaukel quietscht. Darauf sitzt Nadjka, die Schwester des Ich-Erzählers. Nadjka ist anders als die anderen Kinder. "Woher kommst du?", fragt sie der Bruder und glaubt, in ihrem Schweigen als Antwort zu hören: "Ich bin Hanna." So beginnt bereits nach wenigen Seiten eine zweite Geschichte. Die Erzählperspektive ändert sich, aus dem "Ich" wird ein dorfchronikalisch anmutendes "Wir", aus den sechziger Jahren springen wir in die Dreißiger, aus der Geschichte Nadjkas wird die Geschichte Hannas, nur der Ort bleibt derselbe: Kapustin Jar, ein Dorf in Astrachan, nordöstlich von Wolgograd, das 1947 als erstes russisches Raketentestgelände ausgewählt wurde und sich zum Zentrum der sowjetischen Raumfahrt entwickelte.

Hanna ist eine Kosmonautin der anderen Art. Vasilenko erzählt ihre Geschichte im Stil einer Heiligenlegende. Hanna, die Närrin, das auf einem Fluss ausgesetzte Waisenkind, wird von ihrer Ziehtante Charyta in das Kinderheim von Kapustin Jar gebracht. Das Dorf ist zu dieser Zeit ein Ort der Verbannten - Kulaken, die im Zuge von Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft deportiert worden sind.

Apokalyptische Bilder

Das Leid der Menschen wird in apokalyptischen Bildern geschildert. Als Hanna aus dem Heim flüchten muss, wird sie Zeugin und Opfer grausamer Brutalität. Menschlichkeit wird nur den am orthodoxen Glauben festhaltenden Menschen zugeschrieben und den Bewahrern der Lieder und Legenden - wie dem Schmied, der von Stenka Razin erzählt, oder dem Fischer Petr, der in die Fußstapfen seines Namenspatrons tritt, als er Hanna mit dem Netz aus dem Fluss rettet. Entmenschlicht erscheinen dagegen die Vertreter des Systems: Traktorina Petrovna etwa, die Leiterin des Kinderheims und eine wahrhaft grausame Baba Jaga des Kommunismus.

Hanna wird nach einer Erscheinung der Muttergottes zur Heilerin, bis Gott ihr befiehlt, auf einem Floß fort über das Wasser zu fahren. Kehrt sie wieder in der Nadjka aus dem Jahr 1962? Im letzten Teil des Romans erzählt wieder Marat, der Bruder, der die von den Eltern vor 13 Jahren ausgesetzte Schwester am Ufer des Flusses findet. Marat hat Angst. Es ist das Jahr der Kuba-Krise. Man erwartet einen atomaren Schlag der Amerikaner, die Kinder werden in die Steppe evakuiert. Es ist Nadjka, die Närrin, die den Kindern in dieser Nacht die Angst nimmt. Denn Nadjka fährt in den Himmel.

Vasilenko arbeitet auch als Regisseurin, was ihrem Stil anzumerken ist. Manchmal scheint es, als hätte der Erzähler eine Kamera auf seiner Schulter, deren Einstellungen er gekonnt handhabt, eindringliche Nahaufnahmen wechseln mit wuchtigen, an Historienfilme erinnernden Panoramabildern. Sie selbst beschreibt ihre Literatur als "die weibliche Variante des mythischen Realismus".

Zwiespältig

Der Leseeindruck ist zwiespältig. Vasilenkos enthistorisierende Form der Aufarbeitung von Zeitgeschichte ist einerseits eine Zumutung für den Verstand, andererseits muss selbiger manchmal vor der eigensinnigen Schönheit dieser Prosa einfach kapitulieren.

Die Närrin

Roman von Svetlana Vasilenko

Aus d. Russ. v. Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003

191 Seiten, geb., e 19,50

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