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Soho — Seelen und Sehnen

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Am Jüngsten Gericht werden die Guten zur Rechten, die Bösen zur Linken stehen. Bis dahin ist es aber ganz unmöglich für uns, die zwei Gruppen voneinander zu trennen, wie wir das am besten in Londons Stadtviertel „Soho“ beobachten können, wo Tugend und Laster, Fleiß und Trägheit, Liebe und Haß so eng nebeneinander.

Es ist fraglich, woher der Name Soho kommt. Manche behaupten halb aus Ernst, halb aus Scherz, daß er aus den Zeiten stammt, da noch an Ort und Stelle des heutigen Soho weite Felder blühten, wo während der Treibjagden die Jäger einander „So ho!“ zuriefen. Eine andere Vermutung ist, daß die Bezeichnung arabischer Herkunft und auf das Wort S u c k o, Marktplatz, zurückzuführen sei. Das würde allerdings dem Soho unserer Tage vollkommen entsprechen, da Soho — ein Quadratkilometer in der Mitte Londons von der Piccadilly Circus, Regent Street, Oxford Street, Charing Cross Road und Shafterbury Avenue begrenzt — den mannigfaltigsten Marktplatz der Welt enthält.

Zwei bedeutende katholische Pfarrkirchen nehmen am Sonntag eine große Menge von Gläubigen — meistens irländischer und italienischer Herkunft — auf, und die zahlreichen Gastwirte des Stadtviertels können bestätigen, daß man in Soho am Freitag beträchtlich mehr Käse- und Eiersandwiches verkauft als an anderen Tagen.

Die fleißigen, obwohl oft grob«iS.und von der Polizei wiederholt zum Weitergehen aufgeforderten Straßenhändler, die höflichen Verkäufer in den mit Waren reich beladenen Geschäften sowie die hilfsbereiten Handwerker in den Werkstätten machen den Eindruck einer Arbeitsamkeit, die auf den ersten Blick den ganzen Bezirk als hoch ehrbar erscheinen läßt. Wenn man dagegen poetisch veranlagt ist, kann man Soho als das bescheidene Aschenbrödel Londons betrachten, das für die benachbarten prunkvollen „Schwesterbezirke“ der Hauptstadt schwer arbeiten muß.

Aschenbrödel ist allerdings nicht vollkommen demütig und anspruchslos! Es gibt in Soho mehrere Theater, und das modernste Lichtspielhaus Englands, das Cinerama, wo die drei dimensionalen Filme aufgeführt werden, wurde vor einigen Jahren ebenfalls in Soho errichtet. Der Bürger, der Soho mit gutem Appetit und mit genügendem Bargeld versehen betritt, kann dort zwischen wohlausgestatteten österreichischen, ungarischen, italienischen, spanischen, chinesischen, indischen, ja sogar englischen Restaurants wählen, um seinen Hunger und Durst zu stillen. Wenn ihm genügende Einbildungskraft zu eigen ist, kann er sich sogar die Illusion eines Aufenthaltes auf dem europäischen Kontinent oder im Fernen Osten vorspiegeln, da die Restaurateure darauf aus rind, neben den Nationalgerichten auch die entsprechende Atmosphäre zu bieten. Der Ausländer begibt sich nach Soho, um sich dort für einige Stunden zu Hause zu fühlen; der Engländer begibt sich nach Soho, um für einige Stunden der Eintönigkeit der trüben Vorstädte zu entfliehen.

Hinter der Fassade des legitimen Sohos lauert das Soho der Unterwelt — ebenso bunt und international im Charakter. Unter den zahlreichen Nachtlokalen, die Soho beherbergt, sind mehrere, die gewöhnliche Spielhöllen sind, wo illegale Glücksspiele betrieben werden. Unter anderem finden dort Verbrecher eine geeignete Gelegenheit, um das leicht erworbene Geld mit ähnlicher Leichtigkeit zu vergeuden.

Soho ist auch der Mittelpunkt der illegalen Prostitution in England. Die Trottoirs, auf denen während des Tages ehrwürdige Damen mit Kaufkörbchen am Arme vorbeieilen, bevölkern sich nach 19 Uhr mit einer anderen Art von Frauen. Für den Schlupfwinkel, wo sie sich mit ihren auf der Straße aufgelesenen Gäsfen unterhalten; bezahlen sie meistens erpresserische Wochenmieten, die sie jedoch gewöhnlich an einem Tage einnehmen. Gelegentlich werden sie von der Polizei ertappt und für ihre gesetzwidrige Tätigkeit mit einer Geldstrafe von zwei Pfund bestraft, die sie einfach als „Einkommensteuer“ betrachten, da von ihrem contra bonos mores erworbenen Einkommen sonst keine Steuern abgezogen werden.

Manchmal kommt es zu blutigen Banditenüberfällen, obwohl die Polizei behauptet, daß die Prügeleien sich größtenteils zwischen den Gangstern selbst abspielen. In der Tat kam es dort vor einigen Monaten bei hellem, lichtem Tage zwischen zwei Führern der Londoner Unterwelt zu einer sensationellen Schlägerei.

Obwohl beide Teilnehmer von der Polizei ge faßt wurden, konnte der Eigenart der britischen Jurisprudenz zufolge keiner von ihnen vor Gericht eines „Angriffes mit der Absicht,- schweren körperlichen Schaden zuzufügen“ überführt werden.

Allerdings 1st Soho wiederum voll emsigen Lebens. Wir sehen neue moderne Gebäude an Stelle der Bombenkrater des letzten Krieges emporsteigen, und Bauplätze werden für phantastisch hohe Summen erworben.

Im Sommer wird von einem Verein der

Lokalpatrioten Sohos, von der vor drei Jahren gegründeten „Soho Association , ein „Soho Festival" veranstaltet. Ein Maskenaufzug, Gesang, Karussell, ein Wettrennen der in Soho tätigen Kellner mit vollen Platten in der Hand, die Wahl der Schönheitskönigin Sohos gehören zum Programm, um den volkstümlichen Charakter des Stadtviertels zu betonen.

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