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Stunde Null der kaputten Welt?

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Viele Literaturkritiker waren von „Zionoco”, dem neuesten Roman von Leon de Winter, hellauf begeistert. Ich habe ihn auch mit großem Interesse gelesen. Aber er hat mich etwas ratlos gemacht.

Der Romanautor hat bekanntlich große Ähnlichkeit mit Gott. Er setzt Geschöpfe in die Papierwelt, die nichts dafür können und ihm hilflos ausgeliefert sind. Welches Glück, daß sie kein Bewußtsein haben! Ich möchte nicht von Leon de Winter erfunden worden sein. Und das Letzte, was ich gern wäre, ist der Rabbi Sol Mayer.

Sein Leben könnte so schön sein. Seine Frau ist reich, absolut stink reich, bloß im Bett stimmt es nicht mehr zwischen ihnen, weil sie nämlich keine Kinder bekommt. Das liegt leider an ihm. Und weil sie sich glühend eine vorbildliche jüdische Familie wünscht, und weil die regelmäßigen Besuche in der Spezialklinik für künstliche Befruchtungen die Libido kaputtmachen, läuft nichts mehr zwischen ihnen.

Doch das Schicksal schlägt noch grausamer zu. Es setzt den armen Rabbi in eine startbereite Boeing 737 und setzt neben ihn ausgerechnet die schöne, exzellent gebaute Sängerin, die am Abend davor mit ihren Liedern die Teilnehmer des Kongresses über „Die Rolle des Rabbiners in einer sich verändernden Gesellschaft” erfreut und den sexuell unterernährten Sol besonders beeindruckt hat. Schwupps, schon ist er ihr verfallen.

Großes Intermezzo, um uns schonend darauf vorzubereiten, was ihm blüht: Bei der Heimkehr erfährt er brühwarm, daß seine Schwägerin (logo, genauso stinkreich wie seine Frau) seinen Schwager mit der Tochter der Bedienerin auf dem Butcher-block erwischt und sofort aus dem prächtigen Penthouse geworfen hat. Was ein Butcherblock ist? Auch Sol hat es nicht gewußt. Aber jetzt weiß er es. Es handelt sich um den Hackstock in der Küche. Offenbar ein besondere Lust versprechender Ort.

Sol bekämpft einstweilen seine Sexualität mit religiösen Meditationen, aber das nutzt nix. Bei den Deftigkeiten des Buches drängt sich dem Leser die bange Frage auf, ob sie Marktkalkül oder den Obsessionen des Autors entsprungen sind, oder seiner Ange-widertheit angesichts der Verdertbt-heit der Welt, oder ob es sich vielleicht, dritte Möglichkeit, um einen Cocktail aus alledem handelt.

Egal. Sol kann die schöne Sängerin nicht vergessen, und da seine Frau nach den ehelichen Frustrationen sich selber sucht, und das in Frankreich, geht auch er ungestört seine Abwege. Nachdem sich die Sängerin als studierte Astrophysikerin geoutet hat, gibt's kein Halten mehr.

Leider steht der arme Kerl obendrein nicht nur mit einem Fuß auf der ehelichen Tretmine, sondern auch noch mit dem anderen auf einer beruflichen. Er ist nämlich Rabbiner an einer der reichsten Synagogen der amerikanischen Reformjuden und hat naturgemäß sehr wenig Sympathie für „die Schwarzen”, sprich: die Chassiden, sprich: für alles im Judentum, was fundamentalistisch ist. Und er hat die Verwicklung eines in Geldnöten steckenden chassidischen Rabbiners in ein Verbrechen zum Anlaß genommen, in einem Artikel für ein Insider-Blättchen den Ansprach auf Wortführerschaft für das gesamte Judentum, den die Chassiden erheben, auf etwas überhebliche Weise moralisch zu diskreditieren. Und das bekommt ihm nicht gut.

Denn die Chassiden setzen Detektive auf ihn an, und die filmen ihn im Hotel, wie er es mit der singenden Astrophysikerin treibt, oder, genauer: nicht treibt, oder, um es so genau, wie hier möglich, zu sagen: Auf eine Weise nicht treibt, die so ist, daß es schon besser gewesen wäre, sie hätten es wirklich getrieben.

Das ist alles nicht sehr appetitlich, aber Sexualität ist, daran kann kein Zweifel bestehen, ein legitimes literarisches Thema. Auch die Attacke eines Autors gegen chassidischen Fundamentalismus (und da gelingt de Winter eine Szene von köstlicher Komik) ist legitim. Und deshalb, weil er sie reitet, muß ihm nicht das Beform-Judentum besonders sympathisch sein (eine Vermutung, die sich beim Lesen aufdrängt).

Ein gewisser fataler Eindruck, ein unangenehmes Gefühl, das, was mir beim Lesen von „Zionoco” wirklich sauer aufstieß, ' ist auf folgendes zurückzuführen: Das Buch ist durchgehend aus der Perspektive Sols geschrieben. Der Autor erzeugt auf diese Weise Identifikation. Zugleich aber legen Sols Handlungsweisen, vor allem auch in der Vorgeschichte, den Schluß nahe, daß wir es mit einem nicht besonders erfreulichen Charakter zu tun haben.

Dies entwertet, oder relativiert zumindest, die Kritik an den Fundamentalisten, rückt vieles in ein Zwielicht, wirkt wie eine subtile Rücknahme dessen, wovon man doch meinen konnte, es sei dem Autor darauf angekommen.

Was dahinter steckt, kann man nur erraten. Ich würde darauf tippen, daß sich Leon de Winter frühen Frust, aufgestaute Emotionen, Ödipusbe-schwerden, Emanzipationsprobleme, Traumata, irgend etwas von dieser Sorte, von der Seele geschrieben hat und unter den Zwängen, denen ein er-folgeicher Autor unterliegt, das Manuskript dann nicht lange genug abliegen ließ.

Zuletzt läßt er den armen Sol noch mehr oder weniger zufällig einen netten Menschen umbringen. Muß ein Gott mit seinen Geschöpfen so unbarmherzig verfahren, auch wenn sie nur Romanfiguren sind? Sol hat längst in Surinam ein neues Leben begonnen und schon wieder halb versoffen. Nun macht er sich auf die Suche nach den Spuren des verschollenen Vaters. Den hat vor Jahren der Name eines Berges, Zionoco, nach Surinam gelockt - Zionoco, meinte er, müsse doch etwas mit Zion zu tun haben. Die Verwünschungen des Sohnes, der sich wieder einmal im Stande der Pleite befand, haben ihn zum Flugzeug begleitet. In Surinam ist Papa aber aus einem Boot gefallen und ertrunken.

Oder auch nicht. Das Kapitel, in dem Sol Rabbiner der Indianer wird, ist wieder einmal wirklich spannend. Eine Ahnung, was de Winter gemeint haben könnte, öffnet sich plötzlich: Die Welt als etwas völlig Irreparables, das nur noch mit einem völlig neuen Anfang gerettet werden kann.

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