Von der Humanität zur Bestialität

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Am Beispiel Böhmens zeigt Peter Glotz auf, wie Nationalismus entsteht und allmählich die Beziehungen zwischen den Völkern vergiftet.

Wer über die Sudetendeutschen, ihre Vertreibung und die BeneÇs-Dekrete schreibt, gerät schnell zwischen ideologische Fronten: wer nur über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichtet, dem wird Einseitigkeit vorgeworfen; wer sich zu lange bei den Verbrechen der Tschechen 1945 aufhält, ist schnell ein "Ewiggestriger" und "Revisionist".

Glotz hält sich aus diesem Parteienstreit heraus, indem er die überlegte und überlegene Position des - sozialdemokratisch orientierten - Europäers einnimmt. Der Autor, dessen Heimatstadt Cheb (Eger) ist und der aus einer Mischehe stammt, hat nicht ein Buch gegen Deutsche, Tschechen oder andere Nationen geschrieben, sondern eines gegen den Nationalismus. Grillparzers Satz "Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" ist gleichsam sein Motto. Glotz schildert am Beispiel Böhmens, wie Nationalismus entsteht und allmählich die Beziehungen zwischen den Völkern vergiftet.

"Die Folterknechte am Ende des Prozesses (die im Bodensatz jedes Volkes stecken) sind nur die letzten Glieder einer langen Kette, die oft genug mit illustren Geistern beginnt und in der meist auch raffinierte Fälscher ihre Rolle spielen." Diese Fälscher kreieren einen Herkunftsmythos oder Kulturlegenden, um zunächst einmal die eigene Nation zu erfinden. Für Glotz beginnt der Anfang vom Ende deshalb in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eigene Kapitel sind Böhmen während der Donaumonarchie, der Zwischenkriegszeit, dem Protektorat und der Vertreibung gewidmet.

Zuletzt bleibt nur noch die Bestialität übrig, die Glotz schonungslos darstellt: etwa die Massaker von Lidice und Lezáky 1942 oder die Racheakte der Tschechen in Prag 1945. Manchmal gibt es Fälle von Menschlichkeit. Nicht weniger erschreckend sind die Handlungen der Schreibtischtäter. Reinhard Heydrich plant die "blutmäßige Flurbereinigung" im Protektorat, da langfristig "der Tscheche in diesem Raum [...] nichts verloren hat". Für die Dauer des Krieges werden aber noch Arbeitskräfte gebraucht, denen durch Massenerschießungen gezeigt wird, "wer Herr im Hause ist".

BeneÇs findet eine analoge "Lösung" nationaler Probleme. Wie ein britischer Diplomat formuliert, hat er sie "von Hitler geborgt". Glotz bezeichnet die Vertreibung der Sudetendeutschen als völkerrechtswidrige ethnische Säuberung, die 15.000 bis 30.000 Todesfälle als Verbrechen.

Glotz fasst die "Lehren" aus dieser Tragödie in zwölf Thesen zusammen. So betont er etwa, dass es durchaus Alternativen zur Vertreibung gegeben habe. Oder er warnt davor, BeneÇs mit Hitler zu vergleichen. "Hitler wollte die Juden töten, wo immer sie lebten und wo immer er sie antraf. BeneÇs wollte die Deutschen vor allem loswerden, wie auch immer."

Böhmen ist also ein Modellfall, "der immer wieder nach ganz ähnlichen Mustern abläuft". Voller Pessimismus - oder ist es Realismus - fügt Glotz hinzu: "Und ablaufen wird."

DIE VERTREIBUNG

Böhmen als Lehrstück

Von Peter Glotz

Ullstein, München 2003

287 Seiten, geb., e 22,70

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