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Anatoli Pristawkin, einst Vorsitzender der Begnadigungskommission, erinnert sich und zeichnet auch vom heutigen Russland kein sehr schönes Bild .

Der russische Schriftsteller Anatoli Pristawkin wurde 1992 von Präsident Jelzin zum Vorsitzenden der Begnadigungskommission berufen: Eine Einrichtung, die Häftlingen die Möglichkeit gab, ihre Gnadengesuche, vor allem bei drohender Todesstrafe, an Menschen zu richten, deren oberstes Ziel Verständnis und Barmherzigkeit war. 2001 löste Präsident Putin die Kommission auf. Anatoli Pristawkin hatte sich seine Mitarbeiter selbst aussuchen dürfen - es waren keine Juristen darunter -, und in vielen Fällen gelang ihm und seinen Mitstreitern die Empfehlung, Todesurteile in Haftstrafen umzuwandeln oder das Ausmaß von Haftstrafen herabzusetzen. Fragwürdige Erfolge, wie der Titel des Buches "Ich flehe um Hinrichtung" verrät. Die Haftbedingungen in Russland sind noch immer so grauenhaft, dass Verbrecher ihm, Pristawkin, schrieben, sie bäten um den baldigen Tod, denn lebenslanges Eingesperrtsein sei schlimmer als der Tod durch eine Kugel.

Ohnmacht und Schmerz

Pristawkin hat sich im Lauf der 10 Jahre Aufzeichnungen gemacht "aus einem Gefühl der Ohnmacht und des Schmerzes, das mein Inneres zu verbrennen drohte. Wir ertranken förmlich in dem ununterbrochenen Zustrom von Akten und Zehntausenden Briefen pro Monat." Wer sich ein Bild machen will vom heutigen Russland abseits der sich selbst feiernden Prachtstadt Petersburg, sollte an diesem Buch nicht vorübergehen, denn Pristawkin zitiert nicht nur aus Briefen Verzweifelter. Er versucht, zu den Wurzeln der Verkommenheit vorzudringen. Und da nennt er als erste den Wodka: "Bei uns wurden 1994 im Suff 600.000 Verbrechen begangen, und mehr als 50.000 Menschen vergifteten sich mit Surrogaten. Und es wird nicht als nationale Tragödie empfunden." 20 Prozent der russischen Bevölkerung war schon mindestens einmal im Gefängnis: "Wir leben in einem Land, in dem Gefängnishaft eine wesentliche Daseinsform ist."

Pristawkin, selbst als Kind in der Hölle russischer Waisenhäuser herumgestoßen, konstatiert eine Verrohung der Bevölkerung und einen allgegenwärtigen Hang zum Diebstahl; das Unterscheidungsvermögen der Russen zwischen "Mein und Dein" sei abhanden gekommen. Mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen russischen Bevölkerung habe noch nie gearbeitet. Das Volk sei moralisch und physisch kaputt, von einer unausrottbaren, aus alter Zeit stammenden Sklavenmentalität. In der Enge der Mehrfamilienwohnungen brechen sich Hass, Wut, Ohnmacht mit Gewalttaten Bahn. Die Leidtragenden seien vor allem die Frauen. "Unser schlimmster Feind sind wir selber." Zwar benutzen Russen Autos und Rasierapparate, doch sei durch 70 Jahre Kommunismus eine "Antiselektion" geschehen: "Die großen Ähren wegschneiden, die kleinen pflegen: Wir sind asiatisch wild, sklavisch gehorsam und zugleich grausam, ohne Glauben an die guten Gefühle, an Barmherzigkeit, an Gott. Wir sind ein Volk, das Anzeichen von Selbstzerstörung erkennen lässt."

Grausamkeit bis heute

Pristawkin gibt erschreckende Beispiele von aktueller Folterung durch die Behörden und zeigt sich überzeugt, dass bei allen lauten Rufen nach strengen Strafen für unmenschliche Verbrechen die Russen noch immer nicht begreifen, dass Grausamkeit nicht mit Grausamkeit bekämpft werden könne. "Doch Moskau glaubt den Tränen nicht." Dieses Buch ist aus tiefer Liebe und Sorge um das eigene Volk geschrieben. Rezepte zur Spontanheilung gibt es nicht. Pristawkin sagte es aber immer wieder: Erst wenn der Alkoholmissbrauch eingedämmt wird und eine Generation heranwächst, die wieder moralische Werte vorgelebt bekommt, könnte sich dieses "von Gott und der Wahrheit und dem Gewissen verlassene Russland" aus seiner Verzweiflung erheben.

Ich flehe um Hinrichtung

Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten

Von Anatoli Pristawkin

Luchterhand Verlag, München, 2003

382 Seiten, geb., e 24,70

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