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Kurzweil und Langeweile

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Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es das Gegensatzpaar Kurzweil — Langeweile, das schon im Wort den dazugehörigen psychologischen Zeitablauf ausdrückte: der knappe Zweisilber „Kurzweil” stand dem endlos gähnenden Viersil- ber „Langeweile” gegenüber, der sich allenfalls auf eine dreisilbige „Langweile” zusammenpressen ließ, aber niemals bis zur allzu munteren „Langweil” schrumpfte.

Die Kurzweil ihrerseits ließ sich weder in eine Kurzeweil noch gar in eine Kurzeweile dehnen, sondern machte denen, die sie trieben, die Weil so kurz wie möglich. Dennoch ist sie uns im Laufe des Digest-süchtigen 20. Jahrhunderts fast völlig abhanden gekommen, während die Langeweile

Triumphe feierte, sich von Belletristik, Psychologie und Soziologie immer wieder aufs neue untersuchen läßt und in ihrem Nichts durchbohrendem Gefühl den modernen Menschen immer stärker bedroht, ihn umzingelt und lähmt, immer wieder zwischen den Redzpausen seiner abgestumpften Sinne einen Weg in sein Bewußtsein und Unterbewußtsein findet und dort Unheil sät.

Die „Kurzweil” ist sogar sprachlich unmöglich geworden — sie ist zum Gartenlaubewort abgesunken und erinnert an neckische Backfische mit bodenlangen Kleidern und an Flie- gende-Blätter-Leutnants mit energischen Schnurrbärten, an rösa Tüll, Limonade und das „Gebet einer Jungfräti”;” Mit” einem Wort — die Kurzweil ist uns langweilig geworden.” “ V

An ihrer Stelle ist die Unterhaltung getreten, zu der es allerdings keinen Gegensatz „Überhaltung” gibt. Der Gegenpol der Unterhaltung ist nach wie vor die alte Langeweile, wobei es jedoch sprachlich viel leichter möglich ist, von einer „langweiligen Unterhaltung” zu sprechen als etwa seinerzeit von einer „langweiligen Kurzweil”, die — als contradictio in adiecto — von vornherein denkunmöglich scheinen mußte.

Die Unterhaltung hingegen kann durchaus langweilig sein. Selbst ein hauptberuflicher Unterhalter, der seinen Unterhalt davon bestreitet, andere Leute zu unterhalten und auf diese Weise auch seine Familie unterhält, auch ein solcher Unterhalter kann langweilig sein — ist es auch gar nicht so selten.

Das freilich hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Kurzweil zwar ihre Professionals hatte, aber noch keine Industrie war. Es gab immer schon Possenreißer, Jahrmarktskomödianten, Hofnarren, Spielleute und Witzblattschreiber. Aber die Vergnügungsindustrie, die Marktanalyse des Unterhaltungsbedarfs und dessen weitgehend automatisierte Befriedigung sind der neuesten Zeit Vorbehalten geblieben.

Die Sprache in ihrem Feingefühl hat darauf reagiert, indem sie uns die Kurzweil nahm und nur die Langeweile beließ.

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