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Lord M.

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Lord Melbourne — in den Tagebüchern der jungen Königin Victoria stets als Lord M. bezeichnet — war kaum der hervorragendste, sicherlich aber der liebenswürdigste und persönlich interessanteste unter den britischen Premierministern des 19. Jahrhunderts und zugleich einer der gewinnendsten Repräsentanten der Aristokratie, die im Ablauf vieler Generationen Englands politisches und kulturelles Antlitz geformt hat; der hochgebildete, charmante, lebensfrohe und doch sich selbst und der Welt gegenüber zutiefst skeptische Vertreter einer Elite, die im Viktorianischen Zeitalter den Höhepunkt ihres Einflusses, aber auch den Beginn des Abstiegs erlebte. Begreiflich, daß es den Biographen immer wieder verlockt hat, ein Bild des Mannes zu entwerfen, der sich nicht nur in einer kritischen Epoche der englischen Geschichte, durch seine Rolle als erster Minister und vertrauter Freund und Berater der jugendlichen Monarchin, sondern ebenso durch seine rein menschlichen Eigenschaften ein bleibendes Andenken gesichert hat. Dem Unternehmen, sein Leben und Wirken zu beschreiben, kam immer schon der Umstand zugute, daß ein Großteil seiner Korrespondenz und unzählige seiner Aussprüche erhalten geblieben und der Oeffentlichkeit bekannt geworden sind. Durch Erschließung neuer, bisher unzugänglicher Quellen, so auch des königlichen Archivs zu Windsor, ist es Lord Cecil trotzdem gelungen, das landläufig gewordene Bildnis Melbournes in einzelnen Punkten zu korrigieren und um wichtige Einzelheiten zu bereichern. Er proträtiert ihn, und mit vollem Recht, als einen Verächter jeglichen zum Schlagwort gewordenen politischen Ideals, der aber trotzdem oder eben deshalb von einem geradezu mystischen Verlangen beseelt war, bis zur Selbstaufopferung dem Vaterlande zu dienen; als einen wahrhaft humanen, grundgütigen Menschen, der aber doch, wenn das Wohl der Gesamtheit es zu fordern schien, auch vor drakonischen Maßnahmen nicht zurückschreckte; als einen Fabius Cunctator, dessen Zaudern nicht, wie oft angenommen wurde, auf Schwäche und Entschlußunfähigkeit zurückzuführen war, sondern auf die weise Erkenntnis, daß unvermittelte und durchgreifende Neuerungen in der staatlichen oder sozialen Ordnung fast immer mehr Schaden als Nutzen stiften und besseres zu erwarten ist von der behutsamen Lenkung einer organischen Evolution, als von der Ermutigung revolutionärer Bestrebungen. Auch das Bildnis der Heldin dieses Buches, der eben auf den Thron gelangten Königin Victoria, ist dem Autor in ausgezeichneter Weise geglückt. Seine gründliche Kenntnis der Materie und seine humorvolle und gepflegte Sprache machen die Lektüre des übrigens vorzüglich illustrierten Werkes zu einem Genuß. Den österreichischen Leser freilich wird dabei der Gedanke beschäftigen, wie anders sich unsere Geschichte gestaltet haben könnte, wenn es nie einen Palmerston gegeben hätte und an Stelle dieses fanatisch-ungestümen Weltverbesserers der abgeklärte, österreichfreundliche und dem österreichischen Wesen so homogene Lord Melbourne Englands Außenpolitik geleitet haben würde.

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