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Ursprung Nietzsche

19451960198020002020

Friedrich Nietzsche. I. Kindheit und Jugend. Von Richard Blunck. Ernst-Reinhardt-Verlag, München und Basel, Preis: Kartoniert 7.80 DM, Leinen 9.80 DM

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Friedrich Nietzsche. I. Kindheit und Jugend. Von Richard Blunck. Ernst-Reinhardt-Verlag, München und Basel, Preis: Kartoniert 7.80 DM, Leinen 9.80 DM

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Seit Ende des zweiten Weltkrieges geschah das Merkwürdige, daß in Frankreich ein Nietzsche- Buch nach dem anderen erschien, während Deutschland schwieg. Dieses Schweigen kann seinen Grund darin haben, daß für die Besatzungsmächte Nietzsche mit dem Nazismus gekoppelt erschien. Es hat aber doch wohl seinen tieferen Grund darin, daß die heutige Nachkriegszeit wesentlich auf „Restauration" eingestellt ist und mit den vulkanischen Kräften nichts mehr zu tun haben will. Es ist aber ein böser Irrtum, zu glauben, daß man in eine Zeit hinter den vulkanischen Kräften sich zurückziehen könne. Faschismen wie Bolschewismen sind nun einmal ein geschichtliches Schicksal geworden, und der neue Mensch kann nur durch sie hindurch gesichtet werden. — Schon in diesem Sinne ist das Erscheinen der dreibändig ' geplanten Biographie Nietzsches von Bichard Blunck ein wahres Ereignis. Denn gerade der eben erschienene erste Band über die Kindheit und Jugend Nietzsches zwingt den Leser zurück in die Frage nach dem Ursprung des Vulkans, der Nietzsche selber ist. Bei aller klassisch ruhigen Erzählungsweise, in der Blunck bester deutscher Tradition folgt, brennt doch diese Frage in großer Spannung auf. Blunck sieht in Nietzsche die „Erbmasse von Predigern, Lehrern und Erziehern" (68), das heißt aber wohl die Erbmasse des betont Lutherischen. Diese Erbmasse des Lutherischen in Nietzsche sichtet er freilich nicht ausdrücklich. Aber faktisch ist sie ausgesprochen in seinem Satz von der „Spannung zwischen den Polen, der tragischen Erkenntnis und dem Dennoch des vorbehaltlosen Ja zum Leben" (146). Das ist das „Dennoch" Luthers in Nietzsche, und wir möchten nur wünschen, daß Blunck in den folgenden zwei Bänden diesem Aug in Aug zwischen Luther und Nietzsche weiter nachgehen möge, wie wir seinerzeit das Aug in Aug Nietzsches zu Ignatius von Loyola, Donoso Cortez und Therese vom Kind Jesu gezeichnet haben (in „Crucis Mysterium", „Heroisch" und „Huma- nitas"). Dann dürfte das große Werk Bluncks wirklich Nietzsche als „Ursprung" aufdecken, als Ursprung, wie die Vorsokratiker von den „archai", das heißt den Ursprünglichen, sprachen. Es ist ohne Frage im Biographischen das ganz große Verdienst Bluncks, gegenüber der schwülstigen und die Realitäten verdeckenden Biographie der Schwester Nietzsches nichts zu bieten als die reine Wahrheit nach den ursprünglichen, neu aufgedeckten Quellen. Zu dieser reinen Wahrheit aber wird es gehören, daß Blunck die Anfänge der Aufdeckung, die er in diesem ersten Bande vollzieht, bis ins Letzte durchführt. Blunck hat mit Recht hervorgehoben, wie schon der junge Nietzsche als erster in seiner Zeit zu Hölderlin sich bekannte. Im Gegenüber zwischen dem lutherischen Hölderlin und dem lutherischen Nietzsche ist es aber das konkrete Dynamit Luther, das in der heutigen Gegenwart wirksam ist. Dann erst erscheint Nietzsche voll als ihr Ursprung.

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