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Wir irren uns empor

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Kenner wissen seit langem, welche Bedeutung der Philosoph Odo Marquard in der heutigen Zeit hat: Leider ist ihm der Schritt in eine größere Öffentlichkeit bisher verwehrt geblieben - vielleicht für einen Philosophen, der in die Zukunft wirken will, das bessere Los.

So will ich auf Marquards kürzlich im Fink-Verlag, München, erschienenes Buch „Glück im Unglück" mit allem mir möglichen Nachdruck hinweisen. Auch ein Nichtphilo-soph, wenn er nur intelligent und an den Zeitproblemen interessiert ist, wird das Werk mit großem Gewinn lesen: es nimmt zu den wichtigsten Gegenwartsproblemen auf konkrete, fruchtbare und ideenreiche Art Stellung.

Marquard macht klar, daß das schlimmste Verhängnis unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts aus der Illusion über politische Utopien kam. Er ist für realistische Erwartung und schreibt eine „Apologie des Unvollkommenen". Nichts sei ruinöser als Träume von romantischen Paradiesen. Marquard sieht allerdings auch im Irrtum eine Stufe, die weiterführt, denn „wir irren uns empor". Er warnt davor, statt „Gewissen zu haben, Gewissen sein zu wollen". Er sieht die Gefahren eines „Ausbruchs in die Unbelangbarkeit", die Landschaft oder Kunst heißen kann. Er ist gegen den „revolutionären Antimodernismus", den er als eine „Regression nach vorn" bezeichnet.

Marquard sieht zwar mit großer Sorge die zunehmende „Veränderungsbeschleunigung" unseres technischen Zeitalters, erkennt aber auch die Vorzüge von deren Kompensationen (Zustrom zu Museen, Interesse für klassische Musik, an Altstadtrestaurierungen, an Büchern). Odo Marquard ist für die Moderne und hat die unbeirrbare Courage, die Bürgerlichkeit massiv zu bejahen: „Die moderne Welt, und das ist die bürgerliche Welt, ist ... die bewahrenswerteste der uns historisch erreichbaren Welten." Sie ist das „Glück im Unglück" (Buchtitel), das allein dem Menschen auf Erden zu erreichen möglich sei.

Marquard sieht eine große Zukunft der Geisteswissenschaften und der Philosophie voraus, die als Orientierungsdenken immer wichtiger werden. Nun, es kann wohl noch dauern, bis sich diese Erkenntnis in breiteren Kreisen durchsetzt. Für jeden, der sich mit der Gegenwart beschäftigt, ist die Lektüre dieses keineswegs umfangreichen Werkes unverzichtbar - wer es versäumt, weiß nicht, was ihm entgeht.

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