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In den NKWD-Archiven tauchte das Tagebuch eines Mädchens auf.

Moskau in den dreißiger Jahren. Stalin kommt und zieht andere Saiten auf. Volkserziehung beginnt in der Schule und endet nie, das Sowjetregime braucht Genossen, die kuschen. Selbst Alltag ist Politik, harmlose Streiche Jugendlicher gelten schnell als staatsfeindliche Agitation. Der nkwd (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) hat seine Spitzel überall, und auch ein Tagebuch ist vor den Augen der Partei nicht sicher. Schon gar nicht eines wie das von Nina Lugowskaja, einer jugendlichen "Konterrevolutionärin", die angeblich ein Stalin-Attentat plante. So die offizielle Interpretation der Sowjetmacht. Ihr Tagebuch blieb in den nkwd-Archiven bis heute erhalten und enthält auch etliche Unterstreichungen der Untersuchungsbeamten.

Ein Mädchen, das schielt, hat es nicht leicht. Das Interesse am anderen Geschlecht beginnt zu knospen, und ein äußerlicher Makel macht eine schnell zum Mauerblümchen. Wenn dann auch noch der Vater politisch verfolgt wird und die ganze Familie unter einem Regime lebt, in dem Freiheit kein Thema sein darf, ist es kein Wunder, wenn eine sensible Seele sich voll und ganz dem Pessimismus verschreibt. Und der ist nicht parteikonform.

Nina Lugowskajas Tagebuch aus den Jahren 1932 bis 1937 ist ein berührendes Zeitdokument. Der Vater, eben aus der sibirischen Verbannung zurückgekehrt, hält sich illegal in Moskau auf und landet tatsächlich bald wieder im Gefängnis. Die Mutter versucht mit den Zwillingen Shenja und Ljalja und der etwas jüngeren Nina ein möglichst normales Leben aufrechtzuerhalten. Die älteren Schwestern studieren am Textilinstitut, Nina geht in die Schule. Der Familie geht es materiell betrachtet nicht einmal schlecht: Ein Hausmädchen hilft der Mutter, die Schwestern haben Fahrräder, Nina nimmt Privatunterricht in Deutsch, Kommilitonen kommen auf Kaffee und Kuchen vorbei und vor allem der Wohnraum ist sehr großzügig bemessen. Nina verfügt sogar über ein eigenes Zimmer, ein damals äußerst seltener Luxus. Möglicherweise wurde aber vielleicht gerade dieser Wohlstand zum Verhängnis: 1937 werden Nina und ihre Familie verhaftet und nach Kolyma deportiert.

Ninas Tagebuch stellt eine interessante Mischung dar zwischen rebellischen Hasstiraden auf die Sowjetmacht, typisch pubertären Sehnsüchten sowie Selbstkritik bis zum Selbsthass und ist erstaunlich gut geschrieben. Nina hat ganz offensichtlich schon in jungen Jahren viel gelesen, vor allem Klassiker. Sie vergleicht ganz selbstverständlich Schulkameraden mit literarischen Figuren und wird im Laufe der Jahre immer stilsicherer.

Obwohl in der Kritik am Sowjetregime sicherlich auch väterlicher Einfluss mitschwingt, beweist die junge Tagebuchschreiberin ein untrügliches Gespür für Ungerechtigkeit und Lüge und ist dabei erstaunlich eigenständig. Stellenweise allerdings werden Klischees und weit verbreitete Vorurteile Arbeitern oder Juden gegenüber unreflektiert übernommen. Ganz gefestigt in ihrem Denken war Nina eben doch noch nicht. Bei ihrer Verhaftung war sie immerhin erst 18.

ICH WILL LEBEN

Ein russisches Tagebuch 1932-1937 Von Nina Lugowskaja

Carl Hanser Verlag, München 2005

439 Seiten, geb., e 25,60

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