Nicolas Philibert hat in "Etre et avoir" der alten Landschule ein Denkmal gesetzt.
Dichte Schneeflocken fallen, unwirtliche Kälte liegt über den weiten, gefrorenen Feldern in der Gegend um Saint-Etienne-sur-Usson. Ein Kleinbus tuckert die Straße entlang, nimmt dick vermummte Knirpse auf, um sie in der Schule abzusetzen. Verspielt oder verschlafen, je nach Alter und Temperament, stapfen die Kinder durch den verschneiten Volksschulgarten. Ihr Lehrer, Monsieur Georges Lopez, erwartet sie schon.
Hier, in der tiefsten französischen Provinz, gibt es sie noch: die alte Landschule, in der Kinder unterschiedlichen Alters gemeinsam in einer Klasse unterrichtet werden. Regisseur Nicolas Philibert hat ihr im Dokumentarfilm "Etre et avoir" ein liebevolles Denkmal gesetzt. Seit 35 Jahren ist Monsieur Lopez Lehrer. Wie es sich gehört, wohnt er im Schulhaus. Er lebt für seine Kinder. Die liebevolle, behutsame Art, in der er seinen Schützlingen Wissen vermittelt, prägt die Atmosphäre des Films.
Nicolas Philibert begnügt sich nicht damit, den Schulalltag zu zeigen. "Etre et avoir" gibt ganz nebenbei auch Einblicke in die harte Kindheit auf dem Land. Es ist nicht leicht für Olivier, nach dem Heuen im Kuhstall Hausaufgaben zu machen. Die Kommunikation in der Bauernfamilie ist karg, die abgearbeiteten Eltern sind keine Hilfe beim Lernen. Monsieur Lopez weiß um das Umfeld, in dem seine Schüler leben, er vermittelt weit mehr als Schulwissen: Menschlichkeit, behutsame Umgangsformen, Dialog. Dieser Lehrer kocht mit den Kindern, hilft beim Schuhe-Anziehen, hält den Schirm, wenn es bei strömendem Regen wieder durch den Vorgarten zum Kleinbus geht.
Der Reiz dieses außergewöhnlichen Filmes liegt in der Atmosphäre und der Nähe, die er vermittelt. Die Kinder agieren natürlich, man glaubt, mitten unter ihnen auf der Schulbank zu sitzen.
ETRE ET AVOIR - Sein und Haben
Frankreich 2002. Regie: Nicolas Philibert. Mit Georges Lopez und den Schulkindern von Saint-Etienne-sur-Usson.
Verleih: Stadtkino. 104 Min.