Eros und Thanatos, so nah

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Auf der Bühne des Akzent-Theaters steht ein bunter Altar. Eine nackte weibliche Kunststoffpuppe liegt aufgebahrt, von einem Triptychon flankiert. In den Seitenflügeln sind Schreine mit Votivbildern installiert. Herzen, Stoff-und Plastikblumen schmücken den Altar, Videos mit YouTube-Aufnahmen junger Mädchen wechseln mit den Ansagen eines schönen, kahlen Frauenkopfes ab. Die Schauspielerin Çigdem Teke leiht der Figur ihre Stimme, die verzerrt aus dem Off kommt. Der Text stammt von dem US-amerikanischen Psychologen Timothy Leary, der sich mit den bewusstseinserweiternden Wirkungen von LSD beschäftigt hat. "Eliminate your Ego. Eliminate selfishness, anger, doubt. Accept."

Regisseurin Susanne Kennedy verwendet Passagen aus dem "Tibetanischen Totenbuch", Meditationsanweisungen versprechen Heilung und Selbstverwirklichung im Ausgleich für Opfer.

Spektakuläre Installation

Die Pubertäts-Phasen der Selbstmord-Schwestern, Töchter einer streng katholischen Familie, spielen eine entscheidende Rolle in der theatralen Umsetzung. Der gynäkologische Befund eines Mädchens wird vorgelesen, die Menstruation bleibt aus, schwanger ist sie nicht. "Wenn ich ES nicht regelmäßig bekomme, möchte ich nicht weiterleben," sagt eine Mädchen-Stimme aus dem Off und verschlüsselt ihr sexuelles Verlangen. Innerhalb eines Jahres begehen alle Schwestern Selbstmord. "Adoleszente libidinöse Aggression", sagt der psychiatrische Befund, sowie Unterdrückung durch die Eltern. Trotz festen Glaubens hilft die Jungfrau Maria nicht. Ein Altarbild zeigt sie im Kreise der Apostel. Eine Stimme verkündet, dass sie den Menschen in der Stadt erschienen ist. "Call 5 5 5 Mary", heißt es heilsversprechend und gewiss kostenpflichtig.

In dieser spektakulären Installation sind vier Schauspieler als Puppen kostümiert. Sie tragen lange weiße Kleider, Blumen und bunte Locken am Kopf. Die Akteure sprechen kaum, und wenn, dann im Kollektiv, seufzen, stöhnen und drehen sich in Zeitlupe. Einmal verstehen sie sich als Schwestern, dann wieder stellen sie die voyeuristischen Nachbarsburschen dar, die versuchen, den Tod der Mädchen zu verstehen. Kennedy geht es um den Moment, in dem sich "Geisteskörper und Fleischeskörper" voneinander trennen. Sie entkoppelt scheinbar Zusammengehörendes, hebt die Grenzen zwischen Leben und Tod, Realität und Traum auf.

Gegen Ende des eineinhalbstündigen Abends tritt der ausgebildete Philosoph Ingmar Thilo im Kommunionskleid auf. Er schweigt und lächelt Zukünftigem entgegen. Die Puppen-Schwestern kämmen ihm die feinen Haare und umkränzen ihn mit Blumen. Kennedy macht einmal mehr bewusst, wie nah Eros und Thanatos beieinander liegen: eine kurvenreiche Reise durch Licht und Schatten, mit dem Ziel der Erleuchtung.

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