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Mißbrauchte Tragödie

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Aus menschlichen Tragödien Medienspektakel zu machen, aus Katastrophen Einschaltquoten schindende Rührstücke, aus haarsträubender Dummheit beschränkter Menschen Fortsetzungsserien, die von Sentimentalität triefen - das zählt zu den perfekt gekonnten Errungenschaften

unseres die Technik oft so perfid mißbrauchenden Zeitalters.

Wo sind die friedlichen Sommer, in denen zur sprichwörtlichen Saurengurkenzeit das Ungeheuer von Loch Ness regelmäßig zu den Tagen brütender Hitze wiederkehrte! Heute gibt es keinen Mangel mehr an grauenvollen Sensationen, im Gegenteil, sie drohen gerade durch ihre Ballung zur abstumpfenden Tagesroutine zu werden, sodaß die Gefahr besteht, daß bei allzu gehäuften echten Tragödien (für die der Schauplatz Bosnien täglich und stündlich mehr als ausreicht) die Attraktion ins Gegenteil umschlägt: die Leute wollen nichts mehr davon wissen.

Dann beginnt die hektische Suche nach dem Kontrastprogramm, und eine Story wie jene der sechsjährigen Olivia kommt gerade wie gerufen. Reporter steigen in gecharterte Flugzeuge, um die. ersten am aktuellen Ort der Handlung zu sein, wobei Wien und Malaga als Kulisse gerade richtig sind.

Ein schwerkrankes Kind, ein eindrucksvoll aussehender Wunderheiler, die dramatischen Statements von Charakterköpfen der besorgten und erregten Schulmedizin, die eingeschaltete Polizei, die der traurigen Geschichte einen kriminalistischen Hintergrund gibt - das alles wirkt weitaus spannender und bewegender als das kitschigste Fernsehspiel. Zudem geschieht von selbst, was sonst nie geschieht: alle Zeitungen und Illustrierten sind mit eingebunden, sie machen gratis mit, ja sie beteiligen sich an der Inszenierung dieses Superschlagers.

Die TV-Dramaturgie feiert einen ihrer unheimlichsten Triumphe, da sie die Wirklichkeit ihren Grenzen unterwirft. Durch raffinierte Mitfinanzierung des Geschehens schafft sie dramatische Höhepunkte, die für effektvolle Szenen vor attraktiver Kulisse sorgen, und bei den sympathischen Figuren der Eltern, der so gutaussehenden Ärzte (eine fotogene Ärztin muß dabei sein), konnte das alles nur zum Quotenschlager werden.

Die reale Tragödie landete freilich auf dem Niveau des Rührfilms und in der Groteske ihrer Verfälschung. Der totale Zynismus einer TV-Dramaturgie, die vor nichts zurückschreckt, führte zur Superinszenierung menschlichen Leidens: Zur Demontage von Anstand und Verantwortung.

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