Im Weißen Haus, im Elysee, im Palais Schaumburg, im Kreml... es ist in der internationalen Journalistensprache längst üblich geworden, die Zentren der politischen Willensbildung nach dem Ort zu benennen, an dem diese Willensbildung — in Wirklichkeit oder angeblich — stattfindet. Freilich gerät man dabei leicht in die Gefahr der Mythenbildung, und so ist gerade „der Kreml“ heute in doppelter Hinsicht ein Mythos. Denn zunächst einmal ist der Kreml keineswegs eine Art monumentales Sowjet-Bundeshaus, zu dem außer den Beamten nur die Allerhöchsten Zutritt haben. Sondern der Kreml ist entstanden als Wallfahrtsort und Zarenresidenz, ein Mekka der eng mit dem Zaren-tum verbundenen russischen Orthodoxie. Auf einem Raum von etwa einem halben Kilometer Durchmesser steht hier Kirche an Kirche, Palast an Palast, und man mag es als Ironie der Geschichte betrachten, daß ausgerechnet ein Zentrum der politischen Willensbildung des atheistischen Sowjetregimes vielleicht die dichteste Agglomeration von Kirchen darstellt, die es in der Welt gibt.
Freilich sind diese Kirchen längst nicht mehr „in Funktion“ , wie unser freundlicher Dolmetscher sich auszudrücken beliebte, sondern in Museen verwandelt worden, aber so ist fast der ganze Kreml zu einem Riesenmuseum voll der herrlichsten Ikonen und religiösen Fresken geworden.
Gewiß umgibt den Kreml die berühmte Kremlmauer, aber jedermann kann ungehindert die verschiedenen Tore passieren und auf den weiten Plätzen oder in den Parkanlagen promenieren. Es gibt im Kreml sogar ein Theater, und vor kurzem ist auch ein hypermodernes Glas-Stahl-Kongreßhaus, dessen Hauptsaal 6000 Personen faßt, mitten zwischen die vergoldeten Zwiebeltürme aus dem 14. Jahrhundert hineingebaut worden — ein kunstgeschichtlich-städtebauliches Verbrechen, so schön der Bau an sich auch ist. Bloß zu einigen der Paläste, in denen die politische Macht sich etabliert hat, erhält man nicht ohne weiteres Zutritt, und tatsächlich haben Stalin und Chruschtschow in einem dieser Kremlpaläste residiert.
