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Achill als Koch

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Der berühmte Linear B, dessen Entzifferung die moderne Sprachwissenschaft ermöglichte — es handelt sich dabei um Tontafeln aus der mykenischen Frühzeit —, ist nichts anderes als eine Art Küchenzettel des königlichen Haushaltes zu Mykene. Auf ihm befinden sich mehrere Namen, die später durch die Heldenepen im Glanz unsterblicher Größe erstrahlten und für das Heroische überhaupt exemplarisch wurden. Wie kommen Hektor Aias und Achill auf den Küchenzettel? Die Entdeckung des Linear B heizte jedenfalls die Frage nach der Entstehung des Mythos von neuem an. Erklärungen lieferte die Forschung gerade in jüngster Zeit mehrere. Jung sah im Mythos in der Psyche angelegte archetypische Grundmotive, Forscher, wie Eliade, betrachteten ihn als eine Art Einbruch des Übernatürlichen, die soziologische und anthropologische Inter pretation bemüht sich um ein Erfassen des Mythos als kulturelle Realität. Achill als Koch auf der mykenischen Tontafel bestätigt jedenfalls, daß die Wurzeln der „heiligen Geschichte“ am ehesten in der historischen Wirklichkeit zu suchen sind. Deshalb kann ab dem Augenblick, da Geschichtsschreibung als Wissenschaft betrieben wird, was für den Hellenismus bereits zutrifft, der Mythos nicht mehr weiterleben. Die Voraussetzung für den Mythos ist die Geschichtslosigkeit. Dort, wo das Bewußtsein des Geschichtlichen beginnt, endet der Mythos. Wenn man sich wie Gulian allein mit den gesellschaftlichen Verflechtungen und soziologischen Voraussetzungen der Mythenbildung beschäftigt, bleiben solche Aspekte unberücksichtigt. Der Arbeit, die viel Belesenheit und Übersicht zeigt, fehlt daher eine theoretische Durchdringung des Phänomens an sich.

MYTHOS UND KULTUR. Von C. 1. Gulian. In der Reihe „Europäische Perspektiven“. Europa-Verlag. 101 Seiten.

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