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AUGEN DER WELT

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Ich habe die Augen der Welt gesehen. Nun bin ich ruhig. Seit zwanzig Jahren verfolgten mich die Augen der Welt. Zum erstenmal stieß ich auf sie in einem Bericht über eine Schiffskatastrophe. Einundneunzig Tote. Die Augen der Welt waren auf sie gerichtet. Während des Krieges durften wir keine Schwäche zeigen, denn wir hungerten, froren und metzelten unter den Augen der Welt. Die Augen der Welt verfolgen die Kohlen- und Stahlproduktion mit Besorgnis. Sie reichen bis in den Himmel, bis in den letzten Hüttenwinkel am Jangtsekiang.

Obwohl ich sie niemals sah, fühlte ich mich von ihnen belästigt. Ich konnte kein Blatt Papier zur Hand nehmen, ohne an die Augen der Welt zu denken. Wenn ich flanierte, die Zeit verschenkte, auf Pflichten pfiff — da waren sie wieder, die Augen der Welt. In jeder intimen Situation gab es zumindest die Möglichkeit, von ihnen beobachtet zu werden. Allgegenwärtiges Blitzlicht des Weltgewissens, das plötzlich aus dem Überall und Nirgendwo auf dich abgeschossen werden konnte, um dich auszuzeichnen oder zu überführen. Auch die Dunkelheit ist nicht dunkel für die Augen der Welt, dachte ich. Sie nehmen im Erdinnern die geheimsten Strukturen wahr, im Menscheninnern das Bewußte und Unbewußte, Tugenden, die wir uns anzueignen wünschen, Leidenschaften, die wir fürchten.

Nun aber ist es mir gelungen, sie zu stellen. Ich spürte sie zwischen den Schulterblättern, wie einen zart abprallenden Pfeilschuß, als ich auf ein Mädchen wartete, das, wie die ganze Stadt wußte, absichtlich über Verlobungen nicht hinauskam, drehte mich um und starrte in ein kaltes Glimmen aus den mechanisch bewegten Lidern hysterisch lächelnder Puppen.

Die Augen der Welt sind eine Konstruktion. Sie sehen nichts. Sie blinzeln ins Leere.

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