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Laßt mich in Ruhe traurig sein!

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Zigeunermusik ist etwas Wunderbares. Zigeunermusik gehört zum großen Reiz einer Ungarnreise alten Stils. Ja Schmarrn - wo kann man sie denn noch hören? Es war in Kecskemet, ein modernes Hotel mit einem großen Speisesaal. Nach dem Essen kommen die Zigeuner: rassige, dunkelhäutige Männer mit glühenden Augen — ganz nach Klischee, wie in einem alten Film. Und was spielen sie? „Machen wir’s den Schwalben nach“ und danach den Donauwalzer. Als die Zigeuner an unseren Tisch kommen, sage ich: „Ich will etwas schönes Trauriges hören.“ Und mein Wunsch wird erfüllt:

melodiös, rhythmisch und sentimental. Ich gebe mich meiner Stimmung hin und spüre Tränen aufsteigen. Aber kaum sind sie fertig mit diesem Stück, spielen sie schon wieder ein „Fremdenverkehrslied“. Zum Kuckuck, ich will in echter Zigeunermusik baden, aber der Touristenkitsch hat sich gegen mich verschworen. Wo sind die Zeiten, wo man zu den Zigeunern gegangen ist, um sich gesund- fideln zu lassen?

Muß die Sentimentalität, müssen Wehmut und Melancholie das Tageslicht scheuen? Sind alle romantischen Gefühle von der Öffentlichkeit verbannt? Sind also melancho

lische Stimmungen und Gefühle etwas Peinliches, vielleicht sogar etwas Unanständiges? Warum darf man nicht auch die Traurigkeit und Depression in aller Ruhe auskosten?

Kaum ist einer traurig, wird er schon zur Beherrschung gemahnt. Kaum hat einer Tränen in den Augen, wird sie schon von gezückten Taschentüchern bedroht. Warum darf man nicht ungestört traurig sein? Warum darf man nicht ungestört weinen? Warum darf man nicht ungestört von selbsternannten Tröstern sein? Warum stöbern einen die Aktivisten der „Lebenshilfe“ noch in den

letzten Winkeln auf, in die man sich schutzsuchend verkrochen hat?

Ich schreibe das ganz bewußt als Pfarrer, also als einer, von dem man glaubt, daß er trösten muß, weil er für jeden ein passendes Trostpflaster vorbereitet hat. Ich wehre mich gegen meine Verurteilung zum Trösterling. Ich will lieber helfen beim Weinen, beim Traurig- und Sentimentalsein. Ich will lieber Mut machen, auch die Traurigkeit auszukosten, auch das Leid zu verzehren, die Wehmut zu gestalten.

Es wäre schön, wenn im Herbst die Zigeuner in der Kirche spielen würden.

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