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Auf der Treppe zu St. Marien

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Ich kam von der Marienkirche zur Treppe, die zur Straße der Hufschmiede führt. Es war ein stiller Morgen, ein klarer Himmel und im Sonnenschein angenehm warm, im Schatten aber noch kühl von der Nacht. Ich wollte an der Mauer, mit dem Blick über die Hausdächer verweilen. Eine fremde Stadt. Ein neuer Ausblick. Doch dann sah ich das Liebespaar unter dem Rotdorn stehen und ging weiter. Es schien mir nicht recht, sie durch meine Anwesenheit zu stören.

Das Mädchen, eine schlanke Blondine mit schulterlangem Haar, hatte die Augen geschlossen und die Arme um den Hals des jungen Mannes geschlungen. Seine Hände lagen auf ihrem Kreuz, ihre Leiber waren anein-andergedrängt, die Lippen zu einem, wie es schien, nie endenwollenden Kuß vereint. Und wenn sie sich trennten, um atemzuholen, um den Augen Zeit zu geben den anderen zu schauen, so suchten sie einander im nächsten Augenblick schon wieder.

Unten, bei den Häusern blieb ich stehen. Vor mit die große Auslagenscheibe, dahinter zum Kauf angebotene Waren. Ich sah nicht, waren es Herren- oder Damenbekleidungsstük-ke oder waren es vielleicht Jagdwaffen. Ich hatte hier doch irgendwo ein Waffengeschäft gesehen. Ich sah nur mein altes, zerfurchtes Gesicht im Glas. Und da schließlich einige Automobile vorbeifuhren und dann noch eine alte Frau neben mir stehen blieb, um auch in die Auslage zu schauen, schritt ich wieder weiter.

Am Abend ging ich in der anderen Richtung wieder an der Treppe vorbei. Vier leicht angetrunkene Engländer, offenbar Soldaten in Zivil, kamen die Stufen herunter. Sie unterhielten sich so laut, als wären sie allein in dieser Stadt, riefen einander übermütig Spitznamen zu, prahlten mit Trink- und Weibergeschichten.

Ich war wieder vor der Auslagenscheibe stehen geblieben, unsicher: was wußte ich, was einem jungen betrunkenen Mann, wenn er mit drei anderen unterwegs ist, einfällt.

Ich blickte durch die Scheibe auf die Ziffern der Preistafeln und rechnete die Beträge in heimische Währung um. Ich sah mich als Soldat in einem fremden Land, mit anderen betrunken und lärmend durch eine Straße gehen.

Der nächste Morgen war wieder sonnig und warm. Und da es Sonntag frühmorgens war, traf ich auf meinem Spaziergangfast keinen Menschen auf den Straßen. Wieder kam ich zur Marienkirche und konnte nicht widerstehen, ich mußte die Treppe hinuntergehen. Bei dem Rotdornbäumchen verhielt ich. Es war kein Liebespaar weit und breit, keine betrunkenen Männer. Die roten Beeren leuchteten in der Sonne wie Blutstropfen.

Dann stand ich vorder großen Glasscheibe: dahinter zum Kauf angebotene Waren. Ich sah nicht, waren es Herren- oder Damenbekleidungsstük-ke oder waren es Jagdwaffen. Ich sah nur mein altes zerfurchtes Gesicht im Glas. Doch dann hörte ich die dünnen Stimmen von Kindern aus einer Seitengasse, die Verstecken spielten.

Wo bin ich? rief eines der Kinder. Wo? fragte das andere. Da! rief wieder das eine. Wo, da? das andere.

Ich stand vorder spiegelnden Scheibe und sah den Rotdorn, die glatte Stirn des Mädchens unter dem blonden Haar und die Augen des Mannes, die auf die Beeren gerichtet waren, sah die betrunkenen Soldaten im fremden Land. Und ich hörte wieder die Stimmen der Kinder.

Wo bin ich? Wo? Da! Wo, da? Ja, wo war ich?

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