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Aus dem Herzen Anatoliens

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Die Welt ist meine Nahrung, das Volk ist mein Volk - Also sprach Yunus Emre,derim 13. Jahrhundert aus dem Herzen Anatoliens seine Botschaft an die Welt verkündete. Yunus Emre, der mit der Stimme des Volkes sprach, und dem Volk seine Stimme lieh, der dieses Volk wahrhaft liebte, und der von seinem Volk auch heute noch geliebt wird. Yunus Emre, der seine Sprache in den Dienst der Unterdrückten stellte, der Menschlichkeit und Liebe zu Göttern erhob, und Gott auf die Ebene von Menschlichkeit und Liebe zurückholte.

„Was ich so lange gesucht und ersehnt habe / Auf Erden und im Himmel gesucht habe / Was ich gesucht und nirgendwo gefunden habe / In den Menschen habe ich es schließlich gefunden."

Wer war Yunus Emre? Woher stammte er, wo lebte und wo starb er, der über den Tod so weise und hoffnungsfroh schrieb:

„Meine Seele ist ein Vogel / Und mein Leib sein Palast / Wenn der Freund mich ruft / fliegt mein Vogel davon."

Yunus' Name steht auf zahlreichen Gräbern, doch wahrscheinlich ist keines das seine. Sein Werk wurde lange Zeit nur mündlich tradiert. Wer wollte heute noch mit Gewißheit sagen, welches der zahllosen ihm zugeschriebenen Gedichte nun von Yunus stammt, und welches nicht? Und wozu auch? Yunus verstand sich als das Sprachrohr seines Volkes, und dieses Volk hat sich seine Gedichte so sehr zu eigen gemacht, daß nicht mehr festzustellen ist, wer da spricht, der Dichter Yunus, oder das Volk.

„Ich habe den gelben Krokus gefragt: / Warum ist dein Gesicht so gelb? / Sagte die Blume: Was fragst du, / Derwisch? Ich fühle die Größe Gottes."

Wer also war Yunus Emre? Die UNESCO hat das Jahr 1991 zum Jahr des türkischen Dichters erklärt, der von etwa 1240 bis etwa 1321 gelebt haben soll. Sein Leben ist Legende, ein kaum faßbares Gespinst aus Erzählungen und Geschichten. Einer Überlieferung zufolge war Yunus ein kleiner, einfacher Bauer aus dem kargen zentralanatolischen Hochland, ein Bauer wie Tausende andere auch, der sich mühsam von dem Flecken steiniger Erde nährte, welcher sein eigen war, und der nicht selten Hunger litt.

Als Yunus wieder einmal ohne Saatgut war, begegnete er dem Derwisch Taptuk Emre. Er trat in dessen Kloster ein, und diente viele Jahre -schweigend. Eines Abends, anläßlich eines festlichen Essens, wandte sich Taptuk an seinen Lieblingsdichter, mit der Bitte: „Sing uns etwas". Als dieser daraufhin stumm blieb, wandte sich Taptuk an Yunus: „So ist es heute an dir, zu singen!" Da öffnete sich etwas in Yunus, und er sang, sang all das, was sich in ihm angesammelt hatte. Vielleicht auch dieses Lied:

„Ich gehe immerzu und brenne. / Die Liebe hat mich blutrot gemacht. / Weder bin ich verrückt, noch weise. / Komm und sieh, was die Liebe mit mir gemacht hat."

So wie sein berühmter Dichterkollege Francois Villon das „vulgäre" Französisch dem gebildeten Latein vorzog, so gebrauchte Yunus Emre fortan das Türkische anstelle des zu dieser Zeit hoch im Kurs stehenden Persischen und Arabischen.

Während in der Folge die Dichter Europas, wie Dante, Shakespeare oder Cervantes, dazu übergingen, in der Sprache ihres Volkes zu schreiben, überließen die osmanischen Dichter Yunus und seine Sprache dem Volk. Bis zu den Reformen Atatürks galt diese Volksdichtung - und galt auch Yunus Emre - als vulgär und primitiv.

Heute wird Yunus Emre in der Türkei als Nationalheros gefeiert. Wird er deshalb auch wirklich verstanden, wirklich ernstgenommen? Er, der seine Stimme stets gegen die religiösen Fanatiker seiner Zeit erhob, gegen die bigotten Gläubigen, die die diesseitige Welt verunglimpfen, um die jenseitige glorifizieren zu können, er, dessen unbestrittene Religiosität stets auf das Humane ausgerichtet war, und der selbst vor einer Kritik an Gott nicht zurückschreckte.

Yunus Emre heute zu würdigen, heißt - weit über die literarische Bedeutung dieses Dichters hinaus -den Blick freizugeben auf einen toleranten und weltoffenen Islam, einen Islam, der das im Westen so gerne gehegte Feindbild Lügen straft, einen Islam, wie er in weiten Teilen Anatoliens in Form der heterodoxen Sekte der Aleviten bis heute existiert.

Etwa zwanzig Prozent der türkischen Bevölkerung bekennen sich heute zu dieser Form des Islam, und noch viel höher ist ihr Anteil gerade unter den in Europa tätigen türkischen Fremdarbeitern. Sie lebten hier, mitten unter uns. Mit ihnen und durch sie lebt auch Yunus Emre, der Dichter und Humanist. Er war keiner von denen, die dem Volk aufs Maul schauen mußten. Er war das Volk.

„Gibt es auf dieser ganzen Welt / Einen so armen Kerl wie mich, / Das Herz verbrannt, die Augen tränenblind, / Einen so armen Kerl wie mich..."

Der Autor ist Ethnologe und Orientalist und lebt in Istanbul.

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