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Aus Paulus ward Saulus

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Eine neue Erfahrung. Ich vermag sie innerlich nicht nachzuvollziehen.

Die anderen, die Gefährten meiner Jugend, habe ich ja ge kannt. Die Emigranten, die nach dem Ende des Schreckens zurückkehrten und sich sehr rasch in der veränderten alten Heimat wieder zurechtfanden. Die Emigranten, die nicht zurückkehrten, weil sie, verbittert, nicht begreifen konnten, daß Völker reuelos weiterleben, daß kein Volk bereut, was immer auch geschehen sein mag. Ich habe die in Israel Geborenen gekannt, alle selbstbewußt wie die kriegerische Schar des jungen David. Und ich habe sie gekannt und verloren, die Freunde, die untertauchten (einer überlebte unter einem Kohlenhaufen), und die fast alle für immer verschwanden, ihre Asche verwehte irgendwo in Polen.

Ich habe sie gekannt, aber einen wie diesen Saul Friedländer habe ich nicht gekannt. Saul kam 1932 in Prag zur Welt und er versteht nicht, wieso das erste Lied, das er singen lernte, „Ich hatt’ einen Kameraden“ war. Er hält das heute noch für eines Jener kitschigen deutschen Lieder“ und ahnt nicht, daß man es im alten Österreich überall, und in vielen Sprachen sang, möglicherweise auch auf Jiddisch. Saul muß’ mit seinen Eltern fliehen. Französische Katholiken nehmen sich seiner an, verbergen ihn, retten ihn (während seine Eltern nach Osten verschleppt werden), taufen ihn, firmen ihn, Saul heißt jetzt Paul. Paul Ferland. Als begeisterter heranwachsender Christ lernt Paul den französischen Katholizismus kennen, jene ur-gallische, verbissene Variante allerdings, jenen unsichtbaren Eisberg, dessen Spitze einmal Petain heißt, und einmal Lefebvre. Erst durch einen Jesuitenpater erfährt Paul von Auschwitz, erfährt, was es heißt, jüdischer Herkunft zu sein, begreift, daß er sich entscheiden muß. Paul verliert den Halt und wird Kommunist. Dann aber findet er zu den Zionisten, reist als Sechzehnjähriger nach Israel, kämpft dort, lehrt dort, lebt dort. Aus Paulus Wurde wieder Saulus.

Hier endet das Buch. Endet damit auch Saul Friedländers Geschichte? Wer-vermöchte das zu sagen. Die Taufe ist ein Angelhaken, der festsitzt, auch wenn die Angelschnur gerissen ist, auch wenn der Fisch es nicht wahrhaben will. Aus jeder Zeile des Buches spricht Unruhe. Eine Unruhe, die sich lediglich in einer seltsamen Distanz zur israelischen Gegenwart, zum israelischen Alltag bewußt macht. Und diese Unruhe war für mich eine neue Erfahrung - ich vermag sie nicht nachzuvollziehen.

WENN DIE ERINNERUNG KOMMT. Von Saul Friedländer. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1979, 192 Seiten, öS 193,40.

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