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Bestechliche Heilige?

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Neulich las ich vor dem Ein -schlafen in der Zeitung über die Wallfahrt einer Gruppe von Zahnärzten zu einem der heiligen Apollonia geweihten Ort.

Auf einmal fühlte ich mich um Jahrzehnte in einen Abend aus der Kindheit zurückversetzt. Als wäre es gestern gewesen: die schweren, eichernen Schlafzimmerkästen mit den ziselierten Messingbeschlägen, an den Schlüsseln baumeln goldgelbe Chenillequasten. Das Nachtkästchen mit der Marmorplatte und ich selbst im mächtigen, hohen Bett, zwischen gewaltigen Kopf- und Fußenden unter der Tuchent bei Nachtgebet

Heilige Cacilia, laß mich schön singen!

Heilige Ottilie, laß mich gut sehen!

Heilige Apollonia, erhalte meine Zähne! '

Für Augenblicke durchströmte mich ein längst vergessenes Gefühl seliger Geborgenheit, aber dann kratzte irgendein Teufel an diesem beschaulichen Bild aus glücklichen Tagen.

Wenn St. Apollonia die Patronin der Zahnschlosserzunft ist, hätte

ich denn dann nicht an Tausenden von Abenden um mein eigenes Unheil in der Mundhöhle gebetet? Wie sollte eine Helferin sowohl die Zähne schützen als auch deren Sanierer?

Ich kenne keinen notleidenden Zahnarzt, andererseits in meiner Bekanntschaft auch niemanden, der nicht schon des öfteren auf deren Marterstühlen gelitten hätte. Ein dumpfer Verdacht war erwacht und läßt sich nicht mehr beschwichtigen.

Da waren doch vor Jahren die Festtage verschiedener Heiliger verändert worden. Die werden doch nicht zugleich in ihrer Funktion umgepolt worden sein? Das Mißtrauen nagt.Über die Wirksamkeit der heiligen Ottilie nachzudenken, bessert nichts.

Zum Schluß fungiert auch sie jetzt als Patronin der Optiker? Läßt meine Dioptrienzahl schneller wachsen als die Krankenkasse es bewilligt?

Heilige können doch nicht be-

stechlich sein?

Wer bietet oder betet mehr...?

Ungeschoren von meinen Zweifeln kommt lediglich St. Cacilia davon. Es verursacht keine Kosten, ob sie hilft oder nicht. Sie hat mich nie erhört. Früher nicht und später habe ich es (und sie) nicht mehr versucht.

Wenn ich zu singen anfing, behauptete meine Mutter, der Hund würde unruhig, die Katze vergäße ihr Kistchen und die letzte Maus verließe das Haus. Also Stille, bis auf die traditionellen Weihnachts • lieder und ein paarmal im Jahr Happy Birthday im Familienverband.

Im Grunde genommen ist es mir egal, ob ich einmal mehr oder weniger zum Zahnarzt muß und der Abstand zwischen dem Kauf neuer Brillen zwei oder drei Jahre beträgt. Keine Berechnung wiegt das Gefühl der Geborgenheit beim Gedanken an die Kindheitsgebete auf.

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