6798231-1971_20_14.jpg
Digital In Arbeit

Charon zu überlisten

Werbung
Werbung
Werbung

Schreiben und Lesen in der Erzählsprache steht heute unter dem Fragezeichen der Mitschuld an der gesellschaftlichen Repression. Wenn Erzählungen wie die von Alfred Andersch nach ein bis zwei Jahrzehnten Literaturverschleiß neu aufgelegt werden, so erheben sie bereits einen relativen Anspruch des Bleibenden. Haben sie ein Recht dazu?

Die Antwort der großen Erzähler ist glaubwürdig. Die Betäubung, die das Ästhetische der Erzählung ausübt, zielt nicht auf die Sanktion einer falschen Ordnung. Die Erzählung ist vielmehr eine List, um gegebene Dimensionen zu sprengen. Ivo Andrič reflektierte auf Tausendundeine Nacht, als er der Erzählung die Aufgabe zuwies, das Beil des Henkers aufzuhalten. Alfred Andersch bringt ln „Faibios Spielweise” — einer Episode aus dem Roman „Die Rote” — den Orpheus- Mythos in Erinnerung und gestattet der Erzählung damit eine Analogie zur Musik. Den Streichern, die sonst nur das Leid ausdrücken, ist der leise Triumph gegeben, den Fährmann des Totenreiches eiimzuschlä- fern, damit Orpheus und Eurydike über den Schattenfluß setzen können. Die transitorische Sendung des Erzählers, übereinklingend mit Lyrik und Musik, gedeckt durch den Anspruch der Dichtung als Kunst überhaupt.

Diesen hohen Anspruch rechtfertigt Andersch mit einer verbalen Virtuosität, die sich vor allem in der Beherrschung von Lokalkoloriten zeigt, die mit Sicherheit immer gerade soviel Hintergrund geben, wie zur Situation notwendig ist. Die Menschen des Alfred Andersch wirken alle auf eine gefährliche Weise determiniert. Da erweisen sich die Jahre 1951 bis 1963, in denen diese Erzählungen entstanden sind, keineswegs als eine Linie von Entwicklung oder Erkenntnis. Die Charaktere sind und bleiben dm Grunde passiv. Zeugenschaft für die Zeit ereignet sich gleichsam randbezogen.

Diese 20 Erzählungen haben etwas Betäubendes an sich. Sie stehen damit in der Revolte des Entzugs, des stillen Abfalls von einer Gesellschaft, die dem Individuum vorenthält, was es als Entfaltungsraum braucht. Alfred Andersch verharrt in der inneren Emigration.

GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN. Von Alfred Andersch. Diogenes- Verlag, Zürich 1971. 363 Seiten.

DM 14.80.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung