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Chinas „Millionäre“

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Unmittelbar bei der Stadt Shenzhen, nahe dem Luo-See, liegt ein kleines Fischerdorf, zumindest nennt man es heute noch immer so.

Die Leute sind in den fünfziger Jahren hierher zugewandert, haben in ärmlichen Strohhütten gehaust.

Heute stehen dort schmuk-ke Einfamilienhäuser, von denen der Durchschnittschinese nur zu träumen wagt: rund 140 Quadratmeter für vier Personen je Familie im Schnitt.

39 Familien leben hier im Dorf, macht zusammen 151

Einwohner, von denen 80 Erwerbstätige sind.

Noch 1978 lag das ProKopf-Einkommen bei 131 Yuan im Jahr, damit sogar noch unter dem ländlichen Durchschnittseinkommen von 133 Yuan, deutlich aber unter dem Niveau eines Fabrikarbeiters, der vor sieben Jahren im Mittel 316 Yuan pro Kopf und Jahr verdiente.

Das ehemalige Fischerdorf, ein Gruppenkollektiv, hat sich gewaltig verändert. „Typisch ist die Entwicklung der Industrie“, erklärt uns Che Yung Jen, eine junge Frau, die ausländische Besucher betreut.

In Eigeninitiative und gemeinsam mit Hongkong-Chinesen wurden in den letzten Jahren nicht weniger als drei Fabriken — für Plastik, Möbel und Schmucksteine — errichtet, ein Transportunternehmen sowie eine kleine Schiffsflotte gegründet, man züchtet Schweine, führt zwei Restaurants und baut — mit Hongkong-Unterstützung -ein 20-Stock-Hotel. An das Fischerdorf von ehedem erinnert noch ein 170 Mu (11,22 Hektar) großer Fischteich, doch nur mehr 20 Prozent des Dorfeinkommens springen davon ab.

Hier wohnen, wenn man so will, Chinas „Millionäre“. Während in China das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen 1984 in der Landwirtschaft auf 355 Yuan und in der Industrie auf 608 Yuan gestiegen ist, verdiente hier jede Arbeitskraft im Vorjahr 5700 Yuan, durch das Doppel-verdienertum also deutlich über 10.000 Yuan.

10.000-Yuan-Familien: das ist das Synonym für Reichtum in China.

Längst ist die Zeit vorbei, da sich die Dorfbewohner allein um Einkommen und Auskommen mühten: Heute beschäftigt man an die 500 „Gastarbeiter“ aus anderen (ärmeren) Provinzen, die bei bescheidenem Lohn (ungefähr 100 Yuan im Monat und Gratisunterkunft) schon zufrieden sind, hier überhaupt

Arbeit gefunden zu haben. Nur die Familien dürfen nicht mitkommen.

Was passiert mit diesem Reichtum? Ein Teil wird konsumiert. In den Wohnzimmern finden sich moderne Fernsehgeräte und Stereoanlagen, in den Küchen Haushaltsgeräte. Und praktisch jede Familie verfügt schon über ein Motorrad.

Ein Teil wird gespart. Wofür? Che Yung Jen drückt nicht lange herum: „Für ein Hochzeitsfest zum Beispiel, da kommen viele Bekannte und Verwandte“. Und das kostet gut 10.000 Yuan. Die alte Tradition läßt die neuen Reichen nicht los.

Den kollektiven Reichtum investiert man in Sozialleistungen, wie man sie selten in China findet: kostenlose Schule und freie Betreuung im Krankheitsfall etwa. Oder monatlich 50 Yuan Pension für die Alten, die zum Neujahrsfest auch noch ein Extrageld von 100 Yuan drauf -bekommen.

Auch die Partei ist präsent: mit neun Kaderleuten und elf Parteimitgliedern im Dorf. Und nur der Parteisekretär ist — Ordnung muß sein — sozusagen freigestellt.

Man lebt und träumt. Träumt davon, am Ende dieses Jahrzehnts pro Kopf schon 10.000 Yuan verdienen zu können. Aber doch besteht „Angst, daß irgendwann eine unangenehme Überraschung kommt“ (Che Yung Jen). Wohl eine politische.

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