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Das Androgyne im Geist des

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lore tomans buch ist eine art feministisches weltgericht, vor das alle bereiche der zivilisation und kulturgeschichte geladen sind und bei dem tief in der erde geschürft wird.

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lore tomans buch ist eine art feministisches weltgericht, vor das alle bereiche der zivilisation und kulturgeschichte geladen sind und bei dem tief in der erde geschürft wird.

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Wir müssen erst gar nicht die Katastrophen dieses Jahrhunderts samt den globalen Bedrohungen als Argumente heranziehen, es ist eine Sache der Wachheit des Gewissens, ob man die Lebenswirklichkeit, ja die ganze Menschheitsgeschichte vor das Tribunal stellt und für die kulturellen und gesellschaftspolitischen Entscheidungen eine Rechtfertigung einfordert. Piaton, Augustinus, Rousseau, Tolstoi und Nietzsche haben dies getan. Doch war solche Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit, wie dies der deutsche Philosoph Odo Mar-quard nennt, bisher zumeist nur Männersache.

Innerhalb der derzeitigen Frauenbewegung erheben auch Frauen ihre Anklage gegen das, was für uneinklagbare Wirklichkeit angesehen wird: Warum sind wir in diese beschämende Sackgasse geraten, wo neben ungeheuerlichem Luxus und den oft nicht minder erstaunlichen kulturellen Leistungen immer wieder im mörderischen Gemetzel die Menschenvertilgung als einzige Möglichkeit von „Endlösungen” praktiziert wird.

Mit atemberaubender Folgerichtigkeit, die sie aus archäologischen Funden und der Mythenforschung zu belegen weiß, ruft Lore Toman ihr „)' accuse”, jedesmal von einem anderen Gesichtswinkel ausgehend, in zwölf Kapiteln uns leidenschaftlich zu. Hat man unlängst gelesen, wie eine Serbenmafia mit Frauenvergewaltigungsfilmen in den USA Geld scheffelt und es in Griechenland hortet, denkt man daran, wie bestochene Polizisten Straßenkinder hinschlachten, so wird man die oft sehr harten Formulierungen Lore Tomans über unser patriarchalisch gewachsene abendländische Welt in vieler Hinsicht berechtigt, ja heilsam empfinden.

Toman knüpft an die Atlantislegende an, ein Paradies von gewaltloser Gemeinschaft in Gerechtigkeit. Im März 1994 sind es 100 Jahre, daß der große Kreta-Forscher Arthur Evans in Candia landete und die Grundlagen für die Rekonstruktion einer Kultur schuf, in welcher Lore Toman das versunkene Atlantis vermutet: Von den Frauen wesentlich mitbestimmt, bildet sich ein Gemeinschaftswesen aus, in dem das sportlich-spielerische Agon niemals in Aggression und Tötung ausartet und eine kollektive ökologische Vorratswirtschaft keinen männlichen und luxurierenden Prestigewahn aufkommen läßt, von dem spätere europäische und alle asiatischen Hochkulturen gekennzeichnet sind.

Mit dem Untergang der minoi-schen Welt durch einen Vulkan-ausbruch und zufolge der griechisch-männlichen „Raubzivüisa-tion” entwickelt sich jener Lebens- und Herrschaftsstil, welcher als Verrat an AlteTrropa und an Atlantis seit Rom und den Reichsgründungen des Mittelalters bis auf den heutigen Tag bestimmend geblieben ist, da allenthalben eine Umkehr gefordert werden muß, sollen wir noch einmal - wie in der Eiszeit - davonkommen. Graben wir dieses in uns verborgene Atlantis nicht wieder aus, sind wir verloren. Soweit die Prognose von Lore Toman.

Dieser monokausale Aufbau des Buches mag aber doch schon deshalb einige Richtigkeit haben, weil mit der Bevölkerungsexplosion die Kollektive nicht nur zah-

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