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Das unbekannte Ich

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An jedem Montagmorgen ließ Stephen Joseph, Lehrer einer Volksschule in den Ghettos New Yorks, seine Schüler einen Aufsatz schreiben — immer über dasselbe Thema: „Was passierte in meiner Straße am Wochenende?“ Es passierte, daß zum Beispiel Menschen umgebracht wurden, Betrunkene in Haustoren schliefen, Ratten und Hunde Kinder bissen — die Rauschgifthändler nicht zu vergessen …

Lehrer Joseph sammelte die Aufsätze seiner Schüler (im Alter von 7 bis 16 Jahren) und machte ein Buch, daß er „The Me Who Nobody Knows“ (Das Ich, das niemand kennt) nannte. Es wurde, außer einem Zeugnis des amerikanischen Ghettolebens, auch ein Musical — nicht so hart anklagend wie das Buch, weil Gesang und Tanz und die Fröhlichkeit der mitwirkenden Kinder viel Hoffnung und Träumen freien Lauf läßt. Im Gegensatz zu „Hair“,

„Stomp“ und ähnlichen Werken, wollen diese jungen Leute keine Revolution, sondern Frieden.

Die Vorstellung läuft im Orpheum Theatre, am Rande des New Yorker Ghettos (im Osten der Stadt, 2. Avenue), und Kinder selbst aus der Gegend singen Lieder der Ghettos. Sie singen und erzählen von ihren Freuden, Leiden, Träumen und Hoffnungen … von neuen Tagen, in denen die Sonne scheint und es keine Geräusche gibt, vor denen sie Angst haben müssen, und sie nicht mehr allein sein werden. „Das Leben ist schwer, wenn man geboren wird, wird man getragen, wenn man gestorben ist, wird man begraben, dazwischen steht man allein da.“ Zwölf junge Menschen (zwischen 7 bis 16 Jahre alt) wirken mit, sie sind schwarz und weiß, verbittert oder traurig, böse oder verträumt. Es scheint als hätte man die Kinder direkt von der Straße hereingeholt und auch als ob die Szenerie auf der Bühne, die vor dem Theatereingang, mitten im Slum, sei. Der Schein trügt etwas — so wie die „gangs“ in „West Side Story“ und „Hair“, so haben auch diese Kinder ihr Training in Schauspiel- oder

Musikschulen gehabt und sie sind dem Ghetto bereits etwas entronnen. Doch ihr Spiel ist ein wertvolles Zeitdokument — und eine Warnung, die Ghettos nicht zu vergessen.

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