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Die „Ausreißer“

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Haben die in den Westen gegangenen DDR-Oppositionellen ihre Ideale verraten? Die Diskussion um die „schwachen Revolutionäre“ wird in der DDR sehr emotionell geführt.

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Haben die in den Westen gegangenen DDR-Oppositionellen ihre Ideale verraten? Die Diskussion um die „schwachen Revolutionäre“ wird in der DDR sehr emotionell geführt.

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Da lachte die „Junge Welt“. Der Barde Stefan Krawczyk schafft, wo immer er auch hinkommt, Probleme. Der Ex-DDRler kann das Nörgeln einfach nicht lassen, meldete kürzlich das Tagesblatt der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) in Millionenauflage aus Ostberlin. Und nicht ohne Schadenfreude nahm das FDJ-Organ eine Kurzmeldung zum Anlaß seiner Polemik.

Danach soll sich der Bildungsreferent der Evangelischen Kirche Deutschlands, Carl Walter Petersen, gegen Kirchenauftritte des im Zuge der großen Ausreise-und Ausbürgerungswelle im Janner in die Bundesrepublik übergesiedelten Liedermachers ausgesprochen haben. „Krawczyk gehört nicht auf die Kanzel“, erklärte Petersen, da dessen Lieder in der Regel keinen Bezug zum christlichen Glauben hätten.

„Ich wußte, Stefans Künste bleiben im Westen nicht lange gefragt“, erzählt ein Freund des Sängers, der im Zusammenhang mit der offiziellen „Kampfdemonstration“ zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 17. Jänner nicht wie mehr als 100 andere Oppositionelle und Mitglieder unabhängiger Frie-densgrüppen festgenommen wurde. „Aber daß ihm auch in seiner Heimat ein so kalter Wind um die Ohren wehen würde, nein, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Denn die FDJ-Nadelstiche nehmen sich milde aus gegen die Art und Weise, wie „Gebliebene“ und „Weggegangene“, wie „DDR-Treue“ und „Ausreißer“ — so ihre Jargonnamen — seitdem miteinander umspringen. Das Verständnis ist klein, das Mißtrauen umso größer zwischen denen, die der Deutschen Demokratischen Republik den Rücken kehrten und kehren sowie denen, die „nicht über alle Berge ziehen, sondern vor Ort auf Veränderungen pochen“, so der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer.

Hart ins Gericht mit den Freunden, die vor einem halben Jahr aus dem deutschen Bauern- und Arbeiterstaat „gegangen“ worden waren, zog bereits im April ein „Extrablatt“ des Friedrichsfelder Friedenskreises i— eine der ältesten unabhängigen Initiativen der Deutschen Demokratischen Republik. Reinhard Schult griff zu bitterbösen Worten gegenüber seinen ehemaligen Mitstreitern. Das Urteil wurde schon im Titel gefällt: „Gewogen und für zu leicht befunden.“

Besonders hart kritisiert wurden Stefan Krawczyk und dessen Frau Freya Klier. Danach ein Vorwurf an alle: „Der Flächenbrand der brennenden Herzen und betenden Hände, der zirka 40 Städte erfaßt hatte, verlosch. Nicht durch die allmächtige Staatsgewalt, sondern durch die vermeintlich eigenen Leute.“

Im Knast seien sie zu schnell ihren menschlichen Schwächen erlegen, hätten sich auf individuelle Kompromisse eingelassen und die gemeinsame Sache aus den Augen verloren.

„Es waren schwache Revolutionäre“, läßt der Autor einen chilenischen Freund zu Wort kommen. „Ist die Friedensbewegung ein Spiel, bei dem nach Belieben ein-und ausgestiegen werden kann, ein Trittbrett für persönliche Karriere?“ Die Inhaftierten seien als politische Personen ins Gefängnis gegangen und als Privatpersonen herausgekommen. „Eine Metamorphose in 14 Tagen.“

Resümee: Jede Solidarisierung mit Ausreisewilligen, die jede Hoffnung auf Veränderungen in der DDR aufgegeben hätten, sei abzulehnen, denn sie „macht unsere Arbeit unglaubwürdig und diffamiert die Friedensbewegung in den Augen vieler als Sprungbrett“.

Die Antwort der Gescholtenen erfolgte schnell: „Ich wurde also gewogen und für zu leicht empfunden. Wofür überhaupt das Gewicht prüfen? Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in den Westen“, konterte Krawczyk in den „Umweltblättern“, einem Alternativmagazin, das regelmäßig außerhalb der DDR-Kioske erscheint. Aber wer hört ihm noch zu? Oder macht sich gar Gedanken, ob der Barde mit der Ziehharmonika mit der Rolle als „zweiter Wolf Biermann“, die er diesseits und jenseits des Brandenburger Tores zu spielen hatte, je zurechtkam?

Auf den Kleinkunstbühnen des zweiten deutschen Staates löste der Reformeifer Michail Gorbatschows zumindest unter engagierten Christen die Heilserwartungen an den Westen ab. Da wird im neuen Sketch der Theatergruppe „Junge Gemeinde“ aus der Elbestadt Torgau ein ausreisewilliger DDR-Bürger bei der Antragstellung im zuständiges Behördenbüro vorgestellt.

Zweiter Wolf Biermann

Ob er denn nicht wisse, daß das Land seiner Wahl von Krisen geschüttelt sei? Ja, das wisse er; aber nicht nur die Preise stiegen, sondern auch die Demokratie. Da stutzt der Beamte und fragt verunsichert, wo der junge Mann denn eigentlich hinwolle. „In die Sowjetunion“, antwortet der, und die Kabarettisten haben die Lacher auf ihrer Seite.

Kaum jemand auf ihrer Seite haben dagegen Bärbel Bohley und Werner Fischer, die ersten beiden Bürgerrechtler, die im Jänner nach London abgeschoben wurden, seit 6. August aber wieder in ihrer alten Heimat leben (FURCHE 23/1988).

Das Recht, einen Paß zu erhalten, gen Westen ausreisen zu können und gegebenenfalls wieder einreisen, für das sie Millionen DDR-Bürger beneiden, für dieses

Privileg werden sie im Kreis der Basisgruppe „Kirche von unten“, der sie seit langem angehören, nicht bewundert. Man weiß zu gut, vorerst bleibt das ein Privileg, das erst dann zu einem Bürgerrecht für jedermann werden kann, wenn denen, die bleiben und auf Veränderungen im eigenen Land drängen, von staatlicher Seite mehr Gehör entgegengebracht wird.

Doch dazu gehört auch, daß den vielen, die im Jänner gegen ihren Willen ausreisen mußten, nicht alle Türen versperrt bleiben.

Vera Wollenberger, die aus Angst vor einer langen Haftstrafe — aus welchen „staatsfeindlichen Gründen“ ist ihr bis heute noch nicht klar — einen bundesdeutschen Paß annahm, meldete sich aus Süddeutschland in den „Umweltblättern“ zu Wort: „Niemand käme auf die Idee, das Exil der russischen Sozialisten als Schande zu brandmarken, aber mir wird eine Entscheidung, die ich in einer Not- und Leidenssituation nach bestem Wissen und Gewissen getroffen habe, als unmoralischer Bankrott angekreidet.“

Wird ihre Stimme von jenen verstanden werden, die in der alten Heimat auf Veränderungen hinarbeiten könnten?

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