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Die Erinnerung an lß 8 8

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Warum nur begehen wir den 50. Jahrestag einer Katastrophe, die Erinnerung eines wirren Bündels aus Schuld, Verhängnis und Trauer? Was zwingt uns, wie ein Kaninchen auf die Schlange, als Österreicher auf ein Datum zu starren, das vor der Geburt und erst recht vor der Verantwortlichkeit der meisten lebenden Österreicher liegt? .feiern“ da bloß die Nachgeborenen die Schuld ihrer Väter?

Das Dezimalsystem hat wieder einmal zugeschlagen. Die Mathematik herrscht über unsere Erinnerung. Und wie in einer antiken Tragödie erleben wir die Engführung der politischen Ereignisse mit den Zwängen des Kalenders: Nur noch wenige Tage scheinen uns von jenem erzwungenen „Versöhnungsfest“ zu trennen, an. dem die Gemeinde, einem alten Ritual folgend, einem Widder die Sünden des Volkes aufladen wird, um ihn in die Wüste zu treiben. Doch reinigt das Ritual nur jene von Schuld, die erkennen, daß es die eigene ist, die sie dem Sündenbock aufladen. Der Rest bleibt un-gesühnt. So wird es auch diesmal sein.

Was zwingt uns, solche Jahrestage zu begehen? Man stelle sich einen alten Mann in den Siebzigern vor, der den fünf zig sten Jahrestag eines Ehebruchs feiern wollte, der ihm damals die Ebb zerstört und Verhängnis über sein weiteres Leben gebracht hätte. Ist es ein kollektiver Erinnerungszwang, eine schuldbedingte Zählneurose, ein moralischer Juckreiz, der uns kaum vernarbte Wunden aufkratzen läßt?

Oder ist es auch jener Verdrängungsmechanismus, der uns eine hilflose Verantwortung im Rückblick aufnötigt, damit wir die so viel drängendere Verantwortung nach vorne übersehen? Welche Gedenktage werden unsere Nachkommen einst begehen müssen, in Erinnerung daran, wie wir 1988 unversehens schuldig geworden sind an der Zukunft — blind vor Krokodilstränen über die Vergangenheit?

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