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Die Grenzen von Interpol

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Die in Südamerika untergetauchten Kriegsverbrecher haben die Aufmerksamkeit der Welt auf die Schwierigkeit gelenkt, geflohene Kriminelle vor die Justiz der Länder zu bringen, in denen sie ihre Straftaten begangen haben. Aber auch soweit politische Motive nicht im Spiel sein können, ist das internationale Auslieferungs-Recht in höchstem Maße unzureichend. Es ist unbegreiflich, daß die Aufklärung der Verbrechen auf internationaler Ebene durch die Interpol so vorzüglich organisiert ist, dennoch aber bei der Sühne gleicher Straftaten künstliche Barrieren zwischen den Staat errichtet bleiben.

Ein einleuchtendes Beispiel für diese unhaltbare Situation bietet der Fall des „Eisenbahn-Piraten“ Ronald Biggs, der von neuem Schlagzeilen machte: „Biggs wird von brasilianischen Polizeibeamten nach England transportiert — Biggs kann gegen den Impfstoff getauscht werden, den englische Flugzeuge als Hilfeleistung für die Uberschwemmungsopfer bringen“ lauteten die Meldungen. Aber sie stimmen nur halb.

Biggs hatte 1963 mit elf Kumpanen den Postzug Glasgow — London um über sechs Millionen Dollar beraubt, war zu 30 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, aber nach drei Jahren aus dem englischen Gefäng-

nis ausgebrochen. Auf einem Frachter floh er nach Belgien und von dort nach Paris, wo er sich Ronald King nannte und einer Gesichtsoperation unterzog. Dabei erschwindelte er sich einen englischen Paß mit dem Namen Michael John Haynes und flog nach Australien. Aber auch dort fühlte er sich gejagt und suchte, seine Spuren zu verwischen. Er floh dann über Panama nach Venezuela und ließ sich schließlich „endgültig“ in Rio de Janeiro nieder. Drei Jahre lebte er dort ungestört, bis ihn englische Reporter aufstöberten. Zwei Detektive von Scotland Yard, Jack Slipper und Peter Jones, verhafteten ihn unter Beiziehung von Beamten der brasilianischen Bundespolizei. Sie legten eine Erklärung von Biggs vor, der zufolge er freiwillig nach England zurückkehren wolle, doch Biggs behauptete, erpreßt worden zu sein. Das direkte Eingreifen der britischen Sicherheitsbeamten verstimmte offensichtlich in Rio. Biggs wurde wieder in brasilianische „Obhut“ genommen und bekam Gelegenheit zu einer Pressekonferenz. „Ich liebe Brasilien und werde bald Vater eines brasilianischen Kindes sein“, enthüllte er. Dieses Kind werde seine Freundin Raimunda Nascimento de Castro Mitte 1974 zur Welt bringen. Aber auch seine in Australien leben-

de rechtmäßige Gattin Charmaine flog nach Rio, um Biggs beizustehen. Während der Haftzeit in Brasilien ließ er sich von seiner Geliebten auf Unterhalt für das kommende Kind klagen und wurde verurteilt. Wer einem brasilianischen Abkömmling Alimente schuldet, darf nicht ausgewiesen werden. Nach legalistischem Geplänkel, bei dem das Manöver mit der Vaterschaft in Zweifel gezogen wurde, entschied schließlich der Justizminister, da die Schwangerschaft nachgewiesen sei und Biggs die Vaterschaft anerkannt habe, sei eine Ausweisung nach England unzuläs-

sig. Aber auch der britische Auslieferungsantrag sei abzulehnen, da zwischen beiden Staaten kein Auslieferungsabkommen bestehe. So konnte das Ministerium nur vorläufig dekretieren, daß Biggs das brasilianische Territorium binnen 30 Tagen verlassen müsse, da er illegal und mit falschem Paß ins Land gekommen sei. Inzwischen genießt er eine beschränkte Freiheit in Rio. Aber ob die Überwachung ausreicht, um einen so gewiegten Flüchtling am Untertauchen zu hindern, bleibt abzuwarten. Die Millionen, die er noch besitzt, dürften seine Zukunft günstig beeinflussen.

Vielleicht belebt diese Sensations-affaire die internationalen Diskussionen um die Aufhebung des Terri-torialitätSTPrinzips, um endlich die weltweite Verfolgung von Verbrechen nicht nur auf Rauschgift, Mädchenhandel und Luftpiraterie zu beschränken.

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