6951573-1984_14_11.jpg
Digital In Arbeit

Die liehen Kleinen

Werbung
Werbung
Werbung

,,Blamier' mich nicht, mein schönes Kind", sang Heinrich Heine und meinte damit freilich eines, das schon in die gewissen Jahre gekommen war. Ein Stoßseufzer dieser Art pflegte sich aber auch so manchem Mütter- und Vätermund zu entringen, wenn dereinst einmal ein Sprößling in Gesellschaft sich der elterlichen Hand entwand.

Pflegte. Dereinst einmal. Denn heute wissen gottlob alle Väter, Mütter, Opas, Omas, Tanten, Onkel und Kindermädchen, daß es unmenschlich und grausam ist, die freie Entfaltung einer Kinderpersönlichkeit durch Mahnungen wie „Geh' leise!" oder gar ,ßleib' sitzen!" zu traumatisieren.

Konkret heißt dies: Kinder sausen wie die Wilde Jagd durch eine Kirche, während der Priester zur heiligen Handlung rüstet. Kinder quietschen, seufzen, trällern, wenn irgendwo in einem Vortragssaal ganz vorne einer am Pult mit poetischer Stimme Verse haucht.

Alle sind gestört, aber die Seele des lieben Kindes ist es zumindest nicht. Kürzlich raste ein solch putziger Liebling bei einer Dichterlesung in Breakdance-Manier durchs Publikum. Die Mutter tat lange nichts, dann raste sie nach. Und weil das alles sehr laut war, sahen zwei zu spät kommende Erwachsene keinen Grund, nicht auch lautstark von hinten in die vordere Reihe zu tapsen.

Da fielen mir viele ein, die dies bei ähnlichen Gelegenheiten gleichfalls tun, und allmählich kommen mir Zweifel, wer eigentlich wessen Toleranz heute überzu-strapazieren pflegt.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung