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Digital In Arbeit

Die Produktion von Gedenktagen

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Auch Gedenktage werden heute maschinell produziert. Rotationsmaschinen und Programmapparate haben eine Eigenschaft, die man als selbstverständlich ansieht: Sie müssen immerfort weiterlaufen.

Wer kann sich vorstellen, daß ein Radio- oder Fernsehsprecher sagen würde: Meine Damen und Herren, auf Wiedersehen! Heute haben wir nichts mehr zu sagen, wenn uns etwas Neues einfällt, werden wir uns melden. Und dann wäre Funkstille oder man säße vor dem schwarzen Schirm.

Wie Fließbänder müssen diese Maschinen in einem fort produzieren: Nachrichten, Unterhaltung, Kunst-ob man's hören will oder nicht; auch an Sonn- und Feiertagen, wenn andere Fließbänder zur Ruhe kommen, laufen die Walzen der Medien weiter; selbst Feste und Andachten müssen vervielfältigt werden,Staatsfeiern, Paraden und Messen. ;laquo;

Fußballvereine und Kirchen sind beleidigt, wenn ihre Spiele oder Messen nicht übertragen werden, wenn die Massen nicht die Möglichkeit erhalten, die Höchstleistungen der Ballartistik oder der Andacht vom Lehnsessel aus zu verfolgen.

Auch der Kalender ist eine Art Band, das ununterbrochen, parallel zu den Fließbändern der Medien abläuft. Da er genaue Perioden hat, lassen sich vergangene Ereignisse bequem auf gegenwärtige Augenblicke projizieren, ob man nun gerade in Stimmung ist odei nicht. So hat man die Möglichkeit, auch die Geschichte maschinell zu bewältigen.

Berühmte Männer haben charakteristische Lebenspunkte, auf alle Fälle einen, nämlich den Geburtstag, und wenn sie schon tot sind, sogar zwei, den Ge-burts- und den Todestag. Sind es nun hochberühmte Männer, so strahlen diese Tage auf ein ganzes Jahr aus, und in solchen Jahren werden alle Programme mit den Werken dieser Spitzenreiter angereichert.

Man mag sich vorstellen, daß im Paradies oder in der Hölle solche Berühmtheiten, zum Beispiel Künstler, die schon über die zwei charakteristischen Lebenspunkte verfügen, einander zufällig treffen, wobei der eine zum anderen sagt: Du Glücklicher hast schon ein Jahr!

Wie armselig wirkt dagegen ein Nachleben in der Erinnerung gewisser Individuen, die man als Vagabunden oder Zigeuner des Gedächtnisses bezeichnen könnte, und denen plötzlich, zu einem maschinell völlig Undefinierten, im Kalender nicht abgesicherten Zeitpunkt, irgendeine Melodie oder irgendein Gedicht eines toten Künstlers einfällt, einige Takte oder Rhythmen, die sie an abgelegenen Orten laut vor sich hinsummen oder für sich selbst deklamieren wie Spaziergänger im Garten eines Irrenhauses.

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